Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Dielenbretter fallen, erinnern mich an einen meiner Lehrer, der sich immer mit den Fingern langsam auf die Schläfe gepocht hat, wenn er mal wieder über meine Faulheit empört war.
Ich stehe wieder auf, was deutlich langsamer vor sich geht als beim letzten Mal. Hoffentlich sieht es eher danach aus, als plante ich den nächsten Schritt besonders sorgfältig, und nicht so, als hätte ich starke Schmerzen, was der Wahrheit viel näher kommt. Sie will mich nicht töten, und das macht mich echt wütend. Sie wirft
mich herum wie eine Katze ihr Spielzeug. Tybalt fände das sicher lustig. Ich frage mich, ob er es vom Auto aus sehen kann.
»Hör auf damit«, sagt sie mit ihrer Grabesstimme.
Ich stürme auf sie zu, und sie packt mich an den Handgelenken. Ich sträube mich, aber es ist, als wollte ich eine Betonmauer verschieben.
»Lass mich dich doch einfach töten«, murmele ich frustriert. Zorn flammt in ihren Augen auf, und ich denke, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen und vergessen habe, wer sie wirklich ist. Wahrscheinlich werde ich gleich enden wie Mike Andover. Ich verkrampfe mich, weil ich damit rechne, gleich in zwei Stücke gerissen zu werden.
»Ich lasse mich nicht von dir töten«, faucht sie und stößt mich zur Tür.
»Warum nicht? Glaubst du nicht, dein Dasein wäre friedvoller als jetzt?« Nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum ich nicht einfach mal die Klappe halten kann.
Sie schielt mich an, als wäre ich ein Idiot. »Friedvoll? Nach allem, was ich getan habe? Frieden in einem Haus voller zerfetzter Jungs und zerfleischter Fremder?« Sie zieht mich an sich, bis ihr Gesicht dicht vor meinem ist. »Ich lasse mich nicht von dir töten«, wiederholt sie, und dann schreit sie so laut, dass mir die Trommelfelle pochen, während sie mich zur Vordertür hinausschiebt, über die zerstörte Treppe und bis zu dem überwucherten Kies der Zufahrt.
»Ich wollte niemals tot sein!«
Ich pralle auf den Boden, rolle mich ab und sehe, wie die Tür zufällt. Das Haus wirkt jetzt still und leer, als wäre hier seit Millionen Jahren nichts passiert. Behutsam taste ich mich ab und stelle fest, dass alles noch heil ist. Dann drücke ich mich auf die Knie hoch.
Nein, keiner von ihnen wollte sterben. Nicht einmal die Selbstmörder, die es sich alle im letzten Moment anders überlegt haben. Ich wünschte, ich könnte es ihr sagen und dabei so klug vorgehen, dass sie sich weniger einsam fühlt. Außerdem würde ich mich dann nicht mehr wie ein Idiot fühlen, den sie herumgeworfen hat wie einen anonymen Handlanger in einem James-Bond-Film. Ein schöner Profi-Geisterjäger bin ich.
Als ich zum Auto meiner Mom gehe, beruhige ich mich allmählich wieder. Ich werde Anna erwischen, ganz egal, was sie denkt. Zum einen, weil ich noch nie versagt habe, und zum anderen, weil ich, als sie mir gesagt hat, sie werde nicht zulassen, dass ich sie töte, den Eindruck hatte, als wünschte sie sich genau das Gegenteil. Die Tatsache, dass sie sich ihrer selbst bewusst ist, macht sie in mehrfacher Hinsicht zu etwas Besonderem. Im Gegensatz zu den anderen spürt Anna Reue. Ich reibe mir über den schmerzenden linken Arm und weiß jetzt schon, dass ich dort eine Menge Blutergüsse habe. Gewalt funktioniert hier nicht. Ich brauche einen Ausweichplan.
Meine Mom lässt mich den größten Teil des Tages verschlafen und weckt mich nur, um mir zu sagen, dass sie mir ein Bad mit Teeblättern, Lavendel und Belladonna eingelassen hat. Belladonna soll mein überstürztes Verhalten dämpfen. Ich erhebe keine Einsprüche. Mir tut jeder Knochen weh. So ist das eben, wenn man die ganze Nacht von der Todesgöttin in einem Haus hin und her geschleudert wird.
Als ich ganz langsam und mit einer Grimasse ins Badewasser sinke, denke ich über meine nächsten Schritte nach. Tatsache ist, dass ich ins Hintertreffen geraten bin. Das ist mir noch nicht oft passiert, und noch nie in diesem Ausmaß. Aber hin und wieder muss ich einfach jemanden um Hilfe bitten. Ich greife nach dem Handy auf der Ablage und wähle die Nummer eines alten Bekannten. Er ist schon seit Generationen unser Freund und kannte auch meinen Dad.
»Theseus Cassio«, begrüßt er mich, als er abgehoben hat. Ich verziehe das Gesicht. Er nennt mich nie Cas, weil er meinen richtigen Namen viel zu amüsant findet.
»Gideon Palmer«, antworte ich und stelle ihn mir am anderen Ende vor, auf der anderen Seite der Erde, wie er da in seinem schönen, englischen Haus sitzt und auf Hampstead
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