Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
liegt, ist das Mobiliar irgendwie zweitrangig. Ich sage mir, dass es ein billiger Trick war und dass ich schon Schlimmeres gesehen habe, doch es dauert eine Weile, bis sich mein Atem wieder beruhigt. Dann spricht Mike vom Boden aus zu mir.
»Hey, Cas!«
Mein Blick wandert über die Überreste, bis ich sein verzerrtes Gesicht finde, das noch an der rechten Körperhälfte haftet. Es ist die Seite, in der sich die Wirbelsäule befindet. Ich schlucke schwer und blicke kein zweites Mal zu dem freigelegten Rückgrat. Mike verdreht ein einsames Auge.
»Es tut nur einen kleinen Augenblick lang weh«, erklärt er mir. Dann versickert er ganz langsam im Boden wie Öl in einem Handtuch. Auch als er verschwindet, schließt er das Auge nicht. Es starrt mich
weiter an. Auf diesen kleinen Wortwechsel hätte ich auch gut verzichten können. Als ich den dunklen Fleck auf dem Boden betrachte, wird mir bewusst, dass ich den Atem angehalten habe. Ich frage mich, wie viele Menschen Anna in diesem Haus tatsächlich umgebracht hat, ob sie oder vielmehr ihre Hüllen noch da sind, und ob sie die Toten heraufbeschwören kann wie Marionetten, damit sie mir in ihren unterschiedlichen Verfallsstadien entgegentreten.
Reiß dich zusammen. Das ist jetzt nicht der Moment, in Panik zu geraten – das ist der Moment, das Messer zu nehmen und … zu spät zu erkennen, dass sich von hinten etwas anschleicht.
Ich bemerke schwarze Haare neben meiner Schulter. Zwei oder drei tintenschwarze Strähnen, die mir zu winken scheinen. Ich fahre herum, hacke auf die leere Luft ein und rechne schon halb damit, dass sie gar nicht mehr da, sondern sofort wieder verschwunden ist. Doch sie schwebt dort vor mir, zwanzig Zentimeter über dem Boden.
Wir zögern einen Moment und betrachten einander. Ich blicke mit meinen braunen direkt in ihre öligen Augen. Wenn sie auf dem Boden steht, ist sie einen Meter siebzig groß, aber da sie schwebt, muss ich fast zu ihr aufblicken. Meine Atemzüge dröhnen laut durch meinen Kopf. Sachte tropft das Blut von ihrem Kleid auf den Boden. Was ist nach dem Tod aus ihr geworden? Welche Kräfte hat sie entwickelt, welche Wut in sich entdeckt, dass sie mehr ist als nur ein Gespenst und sich in einen Rachegeist verwandelt hat?
Mit der Messerklinge habe ich ihr die Haarspitzen abgeschnitten. Die Stücke schweben zu Boden, und sie sieht ihnen nach, als sie in den Dielenbrettern versinken, genau wie Mike kurz zuvor. Dann zieht ein Schatten über ihre Stirn, eine Art angespannte Trauer, und schließlich blickt sie mich an und fletscht die Zähne.
»Warum bist du wieder hergekommen?«, fragt sie. Ich schlucke und weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Unwillkürlich weiche ich zurück, obwohl ich mir vorgenommen habe, keine Schwäche zu zeigen.
»Ich habe dir das Leben gelassen, das war ein Geschenk.« Aus ihrem Mund dringt eine Stimme, die sich anhört, als käme sie aus einer Gruft, dunkel und schrecklich. So klingt eine Stimme, die keinen Atem braucht. Das Mädchen hat immer noch einen leichten finnischen Akzent. »Dachtest du, das sei leicht gewesen? Oder willst du tot sein?«
Die Frage klingt hoffungsvoll und scheint sie aufzumuntern, ein neuer Glanz tritt in ihre Augen. Sie verdreht auf eine unnatürliche Weise den Kopf, beäugt den Dolch und schneidet eine Grimasse. Ihr Gesichtsausdruck wechselt so rasch wie die Wellen auf einem See.
Dann wabert die Luft um sie herum, und die Göttin verschwindet. An ihre Stelle tritt ein bleiches Mädchen mit langem, dunklem Haar, dessen Füße fest auf dem Boden stehen. Ich blicke auf sie hinab.
»Wie heißt du?«, fragt sie, und als ich nicht antworte, fährt sie fort: »Du kennst meinen Namen. Und ich
habe dir das Leben gerettet. Ist es nicht fair, dass du mir auch deinen Namen sagst?«
»Ich heiße Theseus Cassio«, erwidere ich und denke dabei, was für ein billiger und dummer Trick das doch ist. Wenn sie glaubt, ich werde diese Erscheinungsform nicht töten, dann hat sie sich geschnitten, und das soll kein Wortspiel sein. Aber es ist eine gute Verkleidung, das muss ich ihr lassen. Die Maske, die sie jetzt trägt, ist nachdenklich und hat sanfte, violette Augen. Sie trägt ein altmodisches weißes Kleid.
»Theseus Cassio«, wiederholt sie.
»Theseus Cassio Lowood«, sage ich und weiß selbst nicht, warum ich ihr das erzähle. »Alle nennen mich Cas.«
»Du bist hergekommen, um mich zu töten.« Sie geht in einem weiten Bogen um mich herum. Ich warte, bis sie auf der Höhe
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