Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Heath im Norden Londons hinabblicken kann.
»Es ist lange her«, sagt er, und ich male mir aus, wie er die Beine übereinanderschlägt oder wieder nebeneinander setzt. Beinahe höre ich den Tweed im Telefon rascheln. Gideon ist ein klassischer englischer Gentleman von ungefähr fünfundsechzig Jahren mit weißen Haaren und einer Brille. Er besitzt natürlich auch eine Taschenuhr und lange Regalreihen gewissenhaft eingestaubter Bücher, die sich vom Boden bis zur Decke erstrecken. In meiner Kindheit hat er mich immer auf einer Rollleiter hin und her geschoben und mir aufgetragen, ihm irgendein ausgefallenes Buch über Poltergeister, Bannsprüche oder ähnliche Dinge anzureichen. Meine Eltern und ich haben ihn einmal im Sommer besucht, weil mein Dad einen Geist in Whitechapel jagen wollte, eine Art selbsternannten Nachfolger von Jack the Ripper.
»Sag mal, Theseus«, fährt er fort, »wann willst du eigentlich mal wieder nach London kommen? Hier gibt es viele schöne Sachen, auf die man nachts stoßen kann, und ein paar ausgezeichnete Universitäten, die bis zum Dachfirst befallen sind.«
»Hast du mit meiner Mutter gesprochen?«
Er lacht. Natürlich haben sie über mich geredet. Sie haben seit dem Tod meines Vaters den Kontakt gehalten. Er war … Man könnte wohl sagen, er war der
Mentor meines Vaters. Aber er war mehr als das. Als Dad gestorben ist, hat er sich noch am selben Tag ins Flugzeug gesetzt und mich und meine Mom unterstützt. Jetzt erzählt er mir, ich solle mich doch im nächsten Jahr einschreiben, und ich dürfe mich glücklich schätzen, weil mein Vater die Mittel für meine Ausbildung beiseitegelegt habe, sodass ich mich nicht mit Krediten und so weiter herumschlagen müsse. Das sei ein echter Glücksfall, da ich vermutlich kein Stipendium bekäme. Ich falle ihm ins Wort, weil ich wichtigere und dringendere Anliegen habe.
»Ich brauche Hilfe. Ich sitze ziemlich in der Patsche.«
»Was für eine Art von Patsche?«
»Die tote Sorte.«
»Natürlich.«
Er hört mir zu, während ich ihm von Anna erzähle. Dann rollt im Hintergrund die Leiter umher, er steigt leise schnaufend hoch und sucht ein Buch heraus.
»Eins ist sicher, sie ist kein gewöhnlicher Geist«, erklärt er.
»Ich weiß. Irgendetwas macht sie stärker.«
»Die Art und Weise, wie sie gestorben ist?«, fragt er.
»Ich bin nicht sicher. Nach allem, was ich gehört habe, wurde sie wie viele andere ermordet. Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Aber jetzt geht sie in ihrem alten Haus um und tötet alle, die es betreten. Sie hockt da drin wie eine gottverdammte Spinne.«
»Na, na, wäge deine Worte!«, schimpft er.
»Entschuldige.«
»Sie ist also bestimmt kein gewöhnliches Gespenst«, murmelt er vor sich hin. »Ihr Verhalten ist zu kontrolliert und zielgerichtet für einen Poltergeist …« Er hält inne, ich höre ihn umblättern. »Du bist doch in Ontario, richtig? Steht das Haus vielleicht auf einem alten Indianerfriedhof?«
»Ich glaube nicht.«
»Hm.«
Er macht noch einige Male »Hm«, bis ich mit dem Vorschlag herausrücke, einfach Annas Haus niederzubrennen und zu sehen, was passiert.
»Das würde ich nicht empfehlen«, erwidert er ernst. »Das Haus könnte das Einzige sein, was sie bindet.«
»Oder es ist der Ursprung ihrer Kräfte.«
»Möglich. Aber die Sache muss näher untersucht werden.«
»Wie denn?« Dabei weiß ich schon genau, was er mir raten wird. Er wird mir empfehlen, nicht so faul zu sein, loszufahren und mich gewissenhaft umzusehen. Er wird mir sagen, mein Vater sei sich nie zu gut gewesen, auch mal in ein Buch zu schauen. Und dann wird er etwas über die heutige Jugend grollen. Wenn der wüsste.
»Du musst einen Okkultisten finden.«
»Was?«
»Du musst das Mädchen dazu bringen, seine Geheimnisse zu verraten. Etwas … etwas ist mit ihr passiert. Etwas, das sie beeinflusst hat. Ehe du ihren Geist aus dem Haus austreiben kannst, musst du herausfinden, was es ist.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Er will tatsächlich, dass ich es mit einem Zauberspruch versuche. Aber ich beschäftige mich nicht mit Zaubersprüchen. Ich bin doch keine Hexe.
»Wozu brauche ich einen Okkultisten? Meine Mom macht doch genau das.« Ich betrachte die Teile meiner Arme, die unter Wasser liegen. Es kribbelt schon, aber die Muskeln fühlen sich erfrischt an, und ich sehe im trüben Wasser, dass die Blutergüsse schon wieder abklingen. Meine Mutter ist eine großartige Kräuterhexe.
Gideon kichert. »Gesegnet
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