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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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nicht, denn Anna Korlov ist nicht mein Ende. Eines Tages werde ich den Ort aufsuchen, an dem mein Vater gestorben ist, und die Klinge durch das Maul des Wesens ziehen, das ihn gefressen hat.
    Ich atme zweimal tief durch. Die Messerscheide behalte ich in der Hand, hier muss ich mich nicht verstellen. Ich weiß, dass sie da drin ist, genau wie sie weiß, dass ich komme. Ich spüre, wie sie mich beobachtet. Die Katze sieht mir mit Reflektorenaugen aus dem Auto hinterher und verfolgt meine Bewegungen, als ich auf der überwachsenen Zufahrt zur Vordertür gehe.
    So geräuschlos war noch keine Nacht. Kein Wind, keine Insekten, absolut nichts. Nur der Kies knirscht schrecklich laut unter meinen Schuhen. Aber Heimlichtuerei ist ohnehin zwecklos. Es ist, wie wenn man morgens als Erster erwacht. Jede Bewegung ist laut wie
ein Nebelhorn, ganz egal, wie leise man auftritt. Am liebsten würde ich die Vordertreppe hinauftrampeln, eine der Holzstufen eintreten, das Brett nehmen und die Tür einschlagen. Aber das wäre unhöflich, und außerdem ist es nicht nötig. Die Tür steht offen.
    Ein gespenstischer grauer Schein, der keinen Schatten wirft, sondern die Umgebung wie ein leuchtender Nebel indirekt erhellt, dringt aus dem Haus. In der Ferne glaube ich einen Zug rumpeln zu hören. Die lederne Scheide quietscht, als ich sie fester packe. Ich trete ein und schließe hinter mir die Tür. Ich gebe keinem Gespenst die Gelegenheit, einen Auftritt wie in einem billigen Horrorfilm hinzulegen und sie hinter mir zuzuknallen.
    Der Eingangsbereich ist leer, die Treppe verlassen. Der alte Kronleuchter hat sein Funkeln verloren und hängt wie ein Skelett an der Decke. Auf dem Tisch liegt ein staubiges Tischtuch, von dem ich schwören könnte, dass es gestern noch nicht hier war. Mit diesem Haus stimmt etwas nicht. Hier lauert etwas, das über den Geist, der sich hier herumtreibt, hinausgeht.
    »Anna«, rufe ich. Meine Stimme donnert durch das Haus und verliert sich ohne ein Echo.
    Ich blicke nach links. Die Stelle, wo Mike Andover starb, ist bis auf einen dunklen, öligen Fleck leer. Ich habe keine Ahnung, was Anna mit dem Toten gemacht hat, und ehrlich gesagt will ich auch nicht weiter darüber nachdenken.
    Nichts rührt sich, und ich habe keine Lust, länger zu warten. Andererseits will ich ihr nicht auf der Treppe
begegnen. Dort ist sie zu sehr im Vorteil, denn schließlich ist sie nicht nur untot und so, sondern auch stark wie eine Wikingergöttin. Ich dringe tiefer in das Haus ein und wandere zwischen den verstreuten, mit Staubschutzplanen bedeckten Möbeln umher. Mir fällt ein, dass sie mir möglicherweise auflauert, und dass dieses unförmige Sofa vielleicht gar kein Sofa ist, sondern ein totes Mädchen mit dunkel gefärbten Adern im Gesicht. Gerade als ich vorsichtshalber mit dem Athame zustechen will, höre ich hinter mir ein Schlurfen und drehe mich um.
    »Oh Gott.«
    »Nun übertreib mal nicht«, entgegnet der Geist von Mike Andover. Er steht an dem Fenster, durch das sie ihn gezogen hat, und ist in einem Stück. Ich lächle zögernd. Anscheinend ist er im Tod etwas geistreicher geworden. Andererseits muss ich natürlich davon ausgehen, dass ich keineswegs Mike Andover betrachte. Es könnte genauso gut nur der Fleck auf dem Boden sein, den Anna heraufbeschworen hat, damit er gehen und reden kann. Aber angenommen, dem ist nicht so …
    »Was dir passiert ist, tut mir wirklich leid. So weit hätte es nicht kommen dürfen.«
    Mike legt den Kopf schief. »Nein, so weit hätte es nicht kommen dürfen. Oder vielleicht musste es so weit kommen. Egal.« Er lächelt. Ich weiß nicht, ob das Lächeln freundlich oder ironisch ist, aber unheimlich ist es auf jeden Fall. Besonders, als es schlagartig verschwindet. »Mit dem Haus stimmt was nicht. Wer
hierherkommt, kann es nie wieder verlassen. Du hättest es nicht noch einmal betreten dürfen.«
    »Ich habe hier etwas zu erledigen«, wende ich ein. Die Vorstellung, dass er nicht mehr weggehen kann, schiebe ich beiseite. Das ist viel zu schrecklich und einfach nicht fair.
    »Das Gleiche wie ich gestern?«, fragt er, und es klingt wie ein leises Knurren. Ehe ich antworten kann, zerfetzen ihn zwei unsichtbare Hände und spielen den Moment seines Todes nach. Ich stolpere rückwärts und pralle mit den Kniekehlen gegen einen Tisch oder so etwas, keine Ahnung, es ist mir auch egal. Angesichts des schockierenden Anblicks von Mike, der wieder in zwei grässlichen klebrigen Pfützen auf dem Boden

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