Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
Vom Netzwerk:
sei. Doch Gideon fasste mich bei den Schultern.
    »Dorthin darfst du nie wieder gehen!«, rief er und schüttelte mich so heftig, dass mir die Zähne klapperten. Er nahm mir das schwarze Kreuz ab. Ich habe es nie wiedergesehen. Meine Mutter stand abseits und weinte. Ich hatte schreckliche Angst, denn so war Gideon noch nie mit mir umgesprungen. Er hatte sich immer wie ein Großvater verhalten, mir Süßigkeiten zugesteckt und oft gezwinkert. Solche Sachen eben. Trotzdem, Dad war gerade ermordet worden, und ich war wütend. Ich fragte Gideon, was es mit dem Kreuz auf sich habe.
    Er starrte mich kalt an, dann versetzte er mir eine schallende Ohrfeige, dass ich mich auf den Hintern setzte. Meine Mutter wimmerte leise, schritt aber nicht
ein. Dann gingen sie beide hinaus und ließen mich allein. Als sie mich zum Essen riefen, lächelten sie und taten freundlich, als sei nichts geschehen.
    Ich hatte große Angst und wagte nicht, etwas zu sagen. Ich kam nie wieder auf das Thema zu sprechen. Aber das heißt nicht, dass ich es vergessen habe, und während der letzten zehn Jahre habe ich gelesen und gelernt, was immer ich konnte. Das schwarze Kreuz war ein Voodoo-Talisman. Die Bedeutung habe ich noch nicht ergründet, und auch nicht, warum es mit einer Schlange aus Menschenhaar geschmückt war. Nach der Überlieferung ernährt sich die heilige Schlange, indem sie ihre Opfer im Ganzen verschlingt. Mein Vater jedoch wurde zerstückelt.
    Das Problem bei diesen Nachforschungen ist, dass ich ausgerechnet meine beiden zuverlässigsten Quellen nicht befragen kann. Ich bin gezwungen, herumzuschleichen und in Andeutungen zu reden, damit Mom und Gideon nichts bemerken. Schwierig an der Sache ist auch, dass Voodoo echt ein chaotischer Mist ist. Jeder praktiziert diesen Zauber anders, und sauber analysieren kann man ihn nicht.
    Ich überlege, ob ich Gideon noch einmal fragen soll, nachdem diese Sache mit Anna ausgestanden ist. Ich bin älter geworden und habe mich bewährt, daher würde es jetzt bestimmt ganz anders verlaufen. Während ich dies denke, sinke ich tiefer in das Teebad. Ich kann mich noch genau an die Ohrfeige erinnern, an die unbändige Wut in seinen Augen, und fühle mich wieder, als wäre ich sieben.
    Nachdem ich mich angezogen habe, rufe ich Thomas an und bitte ihn, mich abzuholen und zum Antiquitätenladen zu bringen. Er ist neugierig, aber ich verrate noch nichts. Ich muss auch mit Morfran darüber sprechen und will nicht alles zweimal erzählen.
    Vorsichtshalber mache ich mich schon mal auf eine Predigt meiner Mutter über das Schuleschwänzen gefasst, und auf bohrende Nachfragen, warum ich mit Gideon gesprochen habe, was sie zweifellos mitbekommen hat. Aber als ich die Treppe hinuntergehe, höre ich Stimmen. Zwei Frauenstimmen. Eine gehört meiner Mutter, die andere Carmel. Ich trample eilig nach unten, und da sehe ich sie schon, ein Herz und eine Seele. Sie sitzen im Wohnzimmer einträchtig beieinander, den Oberkörper vorgebeugt, und unterhalten sich angeregt. Vor ihnen steht ein Teller mit Plätzchen. Sobald ich unten ankomme, bricht das Gespräch ab, und sie strahlen mich an.
    »Hallo, Cas«, sagt Carmel.
    »Hallo, Carmel. Was machst du denn hier?«
    Sie dreht sich um und holt etwas aus ihrer Schultasche. »Ich habe dir dein Biologiereferat mitgebracht. Es ist eine Partnerarbeit, und ich dachte, wir könnten das zusammen machen.«
    »Das war doch nett von ihr, Cas, nicht wahr?«, sagt meine Mutter. »Du willst schließlich nicht schon am dritten Schultag Stoff versäumen.«
    »Wir könnten gleich damit anfangen.« Carmel hält den Zettel hoch.
    Ich gehe zu ihr und nehme das Blatt entgegen. Mir
ist nicht klar, warum das eine Partnerarbeit sein soll. Im Grunde geht es nur darum, im Lehrbuch ein paar Antworten zu finden. Aber sie hat natürlich recht, ich sollte nicht zurückfallen. Ganz egal, welche anderen lebenswichtigen Dinge ich sonst noch zu tun habe.
    »Das ist wirklich nett von dir«, antworte ich, und ich meine es ernst, obwohl hier offensichtlich ganz andere Motive im Spiel sind. Die Biologie ist Carmel piepegal. Es würde mich überraschen, wenn sie selbst den Unterricht besucht hätte. Carmel hat die Hausarbeit übernommen, weil sie einen Vorwand brauchte, um mit mir zu reden. Sie will Antworten hören.
    Ich blicke meine Mom an, die mich mit ihrem Röntgenblick mustert, bis es mir unheimlich wird. Sie vergewissert sich, dass die Blutergüsse verheilen, und wird letzten Endes eher erleichtert sein, dass

Weitere Kostenlose Bücher