Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
umdrehen und weglaufen, aber es ist egal, was ich will. All dies ist längst geschehen.
»Miststück«, sagt er laut. Anna zuckt zusammen. Er hält sich die Nase, tastet sie ab und funkelt sie an. »Wir speisen und kleiden dich. Ist das deine Dankbarkeit?« Er streckt die Hand aus, in der nichts ist. Dann versetzt er ihr eine schallende Ohrfeige, packt sie an den Schultern, schüttelt sie und schreit etwas auf Finnisch, das ich nicht verstehe. Ihre Haare wehen wild hin und her, und sie muss weinen. Malvina findet das alles anscheinend sehr aufregend, denn sie sieht mit funkelnden Augen zu.
Anna hat noch nicht aufgegeben. Sie wehrt sich und drängt nach vorn, stößt Elias an der Treppe gegen die Wand. Auf der Kommode neben ihnen steht ein Keramikkrug. Sie greift danach und drischt ihn ihm von der Seite gegen den Kopf, er brüllt und lässt los. Malvina ruft etwas, als Anna zur Tür rennt, aber inzwischen ist das Geschrei so laut, dass ich nicht mehr
viel verstehe. Elias hat Anna schon wieder gepackt und hält sie von hinten an den Beinen fest. Sie ist im Vorraum gestürzt.
Gleich wird Malvina mit dem Messer aus der Küche kommen. Wir alle wissen es. Thomas, Carmel und Will halten die Luft an und wollen die Augen schließen oder vielleicht auch rufen und sich Gehör verschaffen. So etwas haben sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich hätten sie sich so etwas nicht einmal vorstellen können.
Ich betrachte Anna, die mit dem Gesicht nach unten am Boden liegt. Sie hat Angst, aber bei Weitem nicht genug Angst. Ich beobachte das Mädchen, das sich immer noch wehrt und fliehen will, nicht nur vor Elias, sondern vor allem aus dem erdrückenden Haus und aus diesem Leben, das sie zerstört und in den Dreck herunterzieht. Ich beobachte sie, als die Mutter sich mit einem Küchenmesser über sie beugt. Nichts als Wut ist in ihren Augen. Eine dumme, grundlose Wut. Dann fährt die Klinge Anna durch die Kehle, spaltet die Haut und öffnet eine dunkelrote Kluft. Zu tief, denke ich. Zu tief. Anna schreit, bis sie nicht mehr kann.
Als ich hinter mir einen Knall höre, drehe ich mich um und bin für die Ablenkung dankbar. Anna schwebt nicht mehr im Kreis. Sie ist zusammengebrochen und hockt auf Händen und Knien. Die schwarzen Haartentakel zucken, den Mund hat sie geöffnet, als stöhnte oder weinte sie, aber es kommt kein Laut heraus. Graue Tränen strömen ihr wie mit Holzkohle verfärbtes Wasser über die bleichen Wangen. Sie hat zugesehen, wie ihr jemand die Kehle durchgeschnitten hat. Sie hat zugesehen, wie sie verblutet ist, wie sich das rote Blut ausgebreitet und das weiße Tanzkleid getränkt hat. All diese Dinge, an die sie sich nicht erinnern konnte, wurden ihr brutal vor Augen geführt. Sie ist geschwächt.
Obwohl ich es nicht will, blicke ich zu der toten Anna. Malvina zieht sie aus und gibt Elias scharfe Befehle. Er eilt in die Küche und kommt mit einer groben Decke zurück. Sie weist ihn an, die Tote zu bedecken. Er gehorcht. Anscheinend kann er nicht fassen, was gerade geschehen ist. Dann sagt sie ihm, er solle nach oben gehen und ein anderes Kleid für Anna holen.
»Ein anderes Kleid? Wozu?«, fragt er.
Sie faucht ihn an: »Nun mach schon.« Er trampelt so schnell die Treppe hinauf, dass er unterwegs stolpert.
Malvina breitet Annas Kleid auf dem Boden aus. Es ist jetzt völlig rot, die frühere weiße Farbe ist nirgends mehr zu erkennen. Dann geht sie zum Schrank, der auf der anderen Seite des Raumes steht, und kehrt mit schwarzen Kerzen und einem kleinen schwarzen Beutel zurück.
Sie ist eine Hexe, zischelt Thomas mir im Geiste zu. Der Fluch. Auf einmal fügt sich alles zusammen. Wir hätten schon längst erkennen müssen, dass der Mörder eine Art Hexer war. Wir wären aber sicher nicht auf die Idee gekommen, es könnte ihre eigene Mutter sein.
Pass genau auf, denke ich an Thomas gewandt. Vielleicht findest du Hinweise, die mir entgehen, und die mir helfen, alles zu durchschauen.
Schwerlich, antwortet er. Damit hat er wohl recht. Malvina zündet die Kerzen an und kniet sich vor das Kleid. Mit leicht schwankendem Oberkörper rezitiert sie leise finnische Worte. Die Stimme klingt zärtlich, so hat sie nie mit Anna gesprochen. Die Kerzen brennen heller. Zuerst hebt sie die linke, dann die rechte Kerze. Schwarzes Wachs tropft auf das blutige Kleid. Dann spuckt sie dreimal darauf. Der Gesang wird lauter, aber ich erfasse nicht, worum es eigentlich geht. Einige Wörter merke ich mir, um sie später nachzuschlagen.
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