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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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Auf einmal beginnt auch Thomas zu sprechen. Seine Stimme ist leise, aber für uns gut hörbar. Zuerst verstehe ich nicht, was er sagt, ich öffne sogar den Mund
und will ihn zum Schweigen bringen, weil ich zuhören will, aber dann erkenne ich, dass er ihren Singsang auf Englisch wiederholt.
    »Vater Hiisi, erhöre mich, ich wende mich an dich als deine demütige Dienerin. Nimm dieses Blut und diese Macht. Halte meine Tochter in diesem Haus fest. Nähre sie mit Leiden, Blut und Tod. Hiisi, Vater, Dämonengott, erhöre mein Gebet. Nimm dieses Blut, nimm diese Macht.«
    Malvina schließt die Augen, hebt das Küchenmesser und führt es durch die Kerzenflammen. Es ist unglaublich, aber es fängt Feuer. Dann sticht sie das Messer mit einer fließenden Bewegung durch das Kleid und öffnet in den Dielenbrettern ein Loch.
    Inzwischen erscheint Elias wieder oben an der Treppe. Er hat einen Armvoll weiße Sachen dabei – saubere Ersatzkleidung für Anna. Gebannt und entsetzt sieht er Malvina zu. Es ist klar, dass er diese Seite an ihr noch nicht kannte, und da er sie jetzt gesehen hat, wird er aus reiner Angst nie wieder ein Wort gegen sie sagen.
    Durch das Loch in den Dielenbrettern dringt ein Feuerschein empor. Malvina stopft das blutige Kleid mit Hilfe des Messers durch das Loch hinunter, ohne ihren Singsang zu unterbrechen. Als der Stoff verschwunden ist, wirft sie das Messer hinterher. Das Licht flackert, der Boden ist wieder geschlossen. Malvina schluckt schwer und bläst sachte von links nach rechts die Kerzen aus.
    »Jetzt wirst du mein Haus nie wieder verlassen«, flüstert sie.
    Unser Spruch ist beendet. Malvinas Gesicht verblasst wie die Erinnerung an einen Albtraum, es wird grau und ist plötzlich so verwittert wie das Holz, auf dem sie Anna ermordet hat. Die Luft rings um uns verliert die Farbe, und unsere Gliedmaßen entflechten sich. Wir trennen uns voneinander und brechen den Kreis. Thomas atmet schwer, ich höre auch Anna schnaufen. Ich kann nicht glauben, was ich gerade beobachtet habe. Es kommt mir unwirklich vor. Ich verstehe nicht, wie Malvina Anna ermorden konnte.
    »Wie konnte sie das tun?«, fragt Carmel leise. Wir wechseln betretene Blicke. »Es war schrecklich. So etwas will ich nie wieder sehen.« Sie schüttelt den Kopf. »Wie konnte sie das nur tun, sie war doch ihre Tochter.«
    Ich betrachte Anna, die immer noch in Blut und schwarze Adern gekleidet ist. Ihre dunkel verfärbten Tränen sind im Gesicht getrocknet. Sie ist zu erschöpft, um weiter zu weinen.
    »Wusste Malvina, was passieren würde?«, frage ich Thomas. »Wusste Malvina, in was sie ihre Anna verwandelt hat?«
    »Ich glaube nicht. Oder jedenfalls nicht genau. Wenn du einen Dämon beschwörst, kannst du nicht über die Einzelheiten bestimmen. Du lädst ihn nur ein, und er erledigt den Rest.«
    »Es ist mir egal, ob sie es genau wusste«, knurrt Carmel. »Es war widerlich, es war entsetzlich.«
    Wir haben alle Schweißperlen auf der Stirn. Will hat
die ganze Zeit nichts gesagt. Wir sehen aus, als hätten wir zwölf Runden Boxkampf mit einem Schwergewichtler hinter uns.
    »Was tun wir jetzt?«, fragt Thomas, obwohl er nicht den Eindruck erweckt, er könne im Moment noch viel ausrichten. Ich glaube, er wird eine Woche lang durchschlafen.
    Ich wende mich ab und stehe auf. Ich muss einen klaren Kopf bekommen.
    »Cas! Pass auf!«
    Carmels Warnung kommt zu spät. Jemand rempelt mich von hinten an, und im gleichen Moment spüre ich, wie eine sehr vertraute Last aus meiner Gesäßtasche verschwindet. Als ich mich umdrehe, hat Will sich schon mit meinem Athame in der Hand über Anna gebeugt.
    »Will«, ruft Thomas, aber Will zieht den Dolch aus der Scheide und holt weit aus. Thomas bringt sich hastig in Sicherheit.
    »So machst du das doch, oder?«, fragt Will aufgeregt. Er betrachtet die Klinge und blinzelt nervös. »Sie ist schwach, wir können es jetzt tun«, sagt er eher zu sich selbst als zu uns.
    »Will, nicht«, warnt Carmel ihn.
    »Warum nicht? Deshalb sind wir doch hergekommen!«
    Carmel sieht mich hilflos an. Es ist richtig, deshalb sind wir hergekommen. Aber nach allem, was wir gesehen haben, nachdem wir sie am Boden haben liegen sehen, kann ich es nicht mehr tun.
    »Gib mir das Messer«, verlange ich ruhig.
    »Sie hat Mike getötet«, erklärt Will. »Sie hat Mike umgebracht.«
    Ich blicke auf Anna hinab. Ihre schwarzen Augen sind weit aufgerissen und starren nach unten. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt etwas sehen. Sie liegt auf

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