Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
der Seite und ist zu schwach, um sich aufzurichten. Ihre Arme, die, wie ich selbst beobachtet habe, Ziegelsteine zermalmen konnten, zittern schon, wenn sie nur den Oberkörper ein wenig aufrichten will. Wir haben das Ungeheuer auf eine bebende Karikatur reduziert, und falls es jemals einen Moment gab, um sie gefahrlos zu töten, dann ist er jetzt gekommen.
Will hat recht. Sie hat Mike und Dutzende andere Menschen getötet. Und sie wird es wieder tun.
»Du hast Mike umgebracht«, zischt Will und beginnt zu weinen. »Du hast meinen besten Freund auf dem Gewissen.« Dann geht er auf sie los und sticht abwärts zu. Ich reagiere, ohne nachzudenken.
Ich springe vor, fasse ihn am Arm und kann verhindern, dass der Stich ihr geradewegs in den Rücken fährt. Die Klinge prallt von den Rippen ab. Anna stößt einen kleinen Schrei aus und versucht wegzukriechen. Carmel und Thomas rufen etwas, sie schreien uns beide an, sofort aufzuhören, aber wir ringen mit gefletschten Zähnen weiter. Will versucht noch einmal, auf sie einzustechen, trifft aber nur die leere Luft. Ich kann gerade noch einen Ellenbogen heben und ihm gegen das Kinn rammen. Er taumelt ein paar Schritte zurück, und als er wieder angreift, schlage ich ihn ins
Gesicht. Nicht zu fest, aber fest genug, damit er innehält und nachdenkt.
Er wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab und versucht nicht, noch einmal vorzustoßen. Er blickt zwischen mir und Anna hin und her und weiß plötzlich, dass ich ihn nicht vorbeilassen werde.
»Was ist denn mit dir los?«, fragt er. »Das wäre doch eigentlich deine Aufgabe, oder? Warum willst du nichts tun? Wir haben sie doch.«
»Ich weiß noch nicht, was ich tun werde«, antworte ich ehrlich. »Aber ich lasse nicht zu, dass du sie verletzt. Du könntest sie sowieso nicht töten.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht nur auf das Messer ankommt. Ich muss es führen, wegen der Blutsbande.«
»Sie blutet doch schon ganz ordentlich«, höhnt Will.
»Der Athame ist etwas Besonderes. Natürlich funktioniert er – aber der Todesstoß muss von mir kommen. Was es auch ist, das mir dies ermöglicht, du hast es nicht.«
»Du lügst.« Vielleicht hat er damit sogar recht. Ich habe noch nie jemand anders mein Messer führen sehen. Niemanden außer meinem Dad. Vielleicht war dieses Gerede, auserwählt zu sein und zu einer geheimen Ahnenreihe von Geisterjägern zu gehören, nur ein großer Unfug. Aber Will glaubt es. Er weicht zurück und geht zur Tür.
»Gib mir das Messer«, verlange ich noch einmal und muss zusehen, wie es mich verlässt. Das Metall glitzert in dem seltsamen Licht.
»Ich werde sie töten«, verspricht Will uns. Dann dreht er sich um, rennt weg und nimmt den Athame mit. Irgendwo wimmert ein kleines Stimmchen in mir. Etwas Kindliches, Urtümliches. Es ist wie die Szene im Zauberer von Oz , als die alte Dame den Hund in den Fahrradkorb wirft und wegfährt. Meine Füße drängen mich, ihm zu folgen, ihn anzufallen und ihn auf den Kopf zu schlagen, das Messer an mich zu nehmen und nie wieder aus den Augen zu lassen. Aber Carmel spricht mit mir.
»Bist du sicher, dass er sie nicht töten kann?«, fragt sie.
Ich drehe mich um. Sie kniet jetzt tatsächlich neben Anna, sie hat wirklich den Mut gefunden, die Tote zu berühren, sie an den Schultern zu fassen und sich die Verletzung anzusehen, die Will ihr zugefügt hat. Das herausquellende schwarze Blut verhält sich seltsam. Es mischt sich mit dem Blut in dem Kleid und bildet Wirbel wie Tinte, die in rotes Wasser tropft.
»Sie ist so schwach«, flüstert Carmel. »Ich glaube, sie ist schwer verletzt.«
»Sollte sie das nicht auch sein?«, fragt Thomas. »Ich meine, ich schlage mich ungern auf Will ›Ich-weißsowieso-alles-besser‹-Rosenbergs Seite, aber sind wir nicht genau deshalb hier? Ist sie nicht immer noch gefährlich?«
Die Antworten sind »Ja«, »Ja« und noch einmal »Ja«. Ich weiß das, kann aber nicht mehr klar denken. Das Mädchen vor mir ist besiegt, mein Messer ist weg, und die Szenen der grauenhaften Ermordung stehen
mir immer noch vor dem inneren Auge. Hier ist es geschehen, hier ist ihr Leben zu Ende gegangen, hier wurde sie zum Monster, hier hat ihr die eigene Mutter ein Messer durch die Kehle gezogen, sie und ihr Kleid verflucht und …
Ich gehe weiter ins Wohnzimmer hinein und starre die Dielenbretter an. Dann trample ich darauf herum, stampfe mit dem Fuß auf die Bretter und springe auf und ab, um nach einem zu suchen, das locker ist. Es
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