Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Wahrsageschale auf den Boden und öffnet die Wasserflasche.
»Dasani-Mineralwasser ist so gut wie jedes andere«, versichert er uns. »Es ist sauber und leitfähig. Weihwasser oder Wasser aus einer Quelle … Das ist der reine Snobismus.« Mit kristallklarem, musikalischem Plätschern läuft das Wasser in die Schale. Wir warten, bis sich die Oberfläche nicht mehr bewegt.
»Cas«, sagt Thomas. Ich blicke ihn an und bemerke erschrocken, dass er gar nichts laut ausgesprochen hat. »Der Kreis bindet uns aneinander. Wir können gegenseitig unsere Gedanken lesen. Sag mir, was du wissen und sehen musst.«
Es ist völlig verrückt. Der Spruch ist stark, ich fühle mich geerdet und zugleich abgehoben wie ein Drachen. Aber ich bin verwurzelt und spüre, dass ich sicher bin.
Zeige mir, was mit Anna passiert ist, denke ich behutsam. Zeige mir, wie sie getötet wurde und was ihr diese Kräfte verleiht.
Thomas schließt die Augen, und Anna schaudert mitten in der Luft, als hätte sie Fieber. Thomas senkt den Kopf. Zuerst fürchte ich, er habe das Bewusstsein verloren und wir bekämen Schwierigkeiten, aber dann wird mir klar, dass er nur in die Wahrsageschale starrt.
»Oh«, flüstert Carmel.
Die Luft um uns verändert sich. Das ganze Haus verändert sich. Das eigenartige graue Licht wird langsam
wärmer, die Staubschicht schmilzt auf den Möbeln. Ich blinzele. Jetzt sehe ich Annas Haus vor mir, wie es zu ihren Lebzeiten war.
Im Wohnzimmer liegt ein handgewebter Teppich, der Raum ist mit Sturmlampen beleuchtet, die ein gelbes Licht verströmen. Hinter uns geht die Tür auf und zu, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, die Veränderungen in mich aufzunehmen. An den Wänden hängen Fotos, auf dem Sofa liegt eine gestickte, rostrote Decke. Als ich näher hinsehe, erkenne ich, dass der Raum doch nicht so gut eingerichtet ist. Der Lüster ist fleckig und es fehlen Kristalle, im Bezug des Schaukelstuhls klafft ein Riss.
Eine Gestalt bewegt sich durch den Raum, ein Mädchen in einem dunkelbraunen Rock und einer schlichten, grauen Bluse. Sie trägt Schulbücher. Die Haare sind mit einem blauen Bändchen zu einem langen, braunen Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sie sich umdreht, weil auf der Treppe ein Geräusch ertönt, erkenne ich sie. Es ist Anna.
Es ist unbeschreiblich, sie lebendig zu beobachten. Ich dachte, von dem früheren Mädchen sei in dem, was Anna jetzt ist, nicht mehr viel übrig geblieben, aber ich habe mich geirrt. Als sie den Mann auf der Treppe anblickt, erkenne ich auch ihre Augen wieder. Sie sind hart und wissend, gereizt. Sofort wird mir klar, dass dies der Mann ist, von dem sie mir erzählt hat. Der Mann, der ihre Mutter heiraten wollte.
»Und was haben wir heute in der Schule gelernt, liebe Anna?« Sein Akzent ist so stark, dass ich die
Worte kaum verstehen kann. Er schreitet die Treppe herunter, und die Art, wie er sich bewegt, reizt mich zur Weißglut – lässig und selbstbewusst, sich der eigenen Macht sehr bewusst. Er humpelt leicht, ist aber auf den hölzernen Gehstock, den er bei sich hat, im Grunde nicht angewiesen. Als er um sie herumgeht, muss ich an einen kreisenden Hai denken. Anna beißt die Zähne zusammen.
Er greift über ihre Schulter hinweg und fährt mit dem Finger über einen Buchdeckel. »Schon wieder Dinge, die du nicht brauchst.«
»Mama will, dass es mir einmal gut geht«, erwidert Anna. Es ist dieselbe Stimme, die ich schon kenne, nur mit einem stärkeren finnischen Akzent. Sie dreht sich rasch herum. Ich kann es nicht sehen, bin aber sicher, dass sie ihn anfunkelt.
»Dir wird es bestimmt gut ergehen.« Er lächelt. Sein Gesicht ist kantig, und die Zähne sind gut. Er hat einen Bartschatten und eine beginnende Glatze. Was von seinen hellblonden Haaren noch vorhanden ist, hat er glatt zurückgekämmt. »Kluges Mädchen«, flüstert er und will ihr Gesicht berühren. Sie entzieht sich ihm mit einem Ruck und läuft die Treppe hinauf, doch es sieht nicht wie eine Flucht, sondern wie energische Ablehnung aus.
Gutes Mädchen, denke ich, bis ich mich erinnere, dass ich mich im Kreis befinde. Ich frage mich, wie viel von meinen Gedanken und Gefühlen Thomas auffängt. Innerhalb des Kreises tropft Annas Kleid. Sie schaudert, als die Szene weitergeht.
Ich beobachte unverwandt den Mann, Annas angehenden Stiefvater. Er grinst in sich hinein, und als sie im ersten Stock die Tür geschlossen hat, greift er in sein Hemd und holt ein weißes Stoffbündel hervor. Erst als er es sich an
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