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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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nützt nichts. Ich bin einfach zu dumm. Ich bin nicht stark genug und weiß nicht einmal genau, was ich da mache.
    »Dort ist es nicht«, schaltet sich Thomas ein. Er starrt den Boden an und deutet dann auf das Brett links von mir.
    »Das da ist es, und du brauchst ein Werkzeug.« Damit rennt er zur Tür hinaus. Ich hätte nicht gedacht, dass er noch so viel Kraft in sich hat. Der Bursche überrascht mich, und nützlich ist er auch, weil er ungefähr vierzig Sekunden später mit einer Brechstange und einem Reifenheber zurückkehrt.
    Zusammen hacken wir auf den Boden ein. Zuerst erreichen wir gar nichts, aber dann gibt das Holz langsam nach. Mit der Brechstange hebele ich das lose Ende eines Bretts auf und knie nieder. Das Loch, das wir geöffnet haben, ist dunkel und tief. Ich weiß gar nicht, wie es überhaupt dort sein kann. Ich müsste eigentlich durch Balken zum Keller hinabblicken, entdecke aber nur Schwärze. Nach kurzem Zögern taste ich in dem Loch umher. Es fühlt sich tief und kalt an.
Ich fürchte schon, ich habe mich geirrt und wieder eine Dummheit begangen, doch dann spüre ich es mit den Fingerspitzen.
    Der Stoff ist steif und kühl. Vielleicht etwas feucht. Ich ziehe ihn heraus, fast sechzig Jahre nachdem er zusammengeknüllt und dort versteckt worden ist.
    »Das Kleid«, haucht Carmel. »Was …«
    »Ich weiß es nicht«, antworte ich ehrlich, während ich zu Anna gehe. Ich habe keine Ahnung, welche Wirkung das Kleid auf sie haben wird, wenn es überhaupt eine hat. Macht es sie stärker? Heilt es sie? Löst sie sich in Luft auf, wenn ich es verbrenne? Thomas hätte vermutlich bessere Ideen. Er und Morfran könnten sicher die richtige Antwort finden, und wenn nicht, könnte Gideon helfen. Aber dazu habe ich keine Zeit. Ich knie nieder und zeige ihr den fleckigen Stoff.
    Zuerst tut sie gar nichts. Dann kämpft sie sich auf die Füße hoch. Ich folge ihrer Bewegung und halte das blutige Kleid in Augenhöhe. Die Schwärze zieht sich zurück, Annas eigene Augen schälen sich neugierig aus dem Gesicht des Ungeheuers heraus. Aus irgendeinem Grund finde ich das viel beunruhigender als alles andere. Meine Hand zittert. Sie steht vor mir, schwebt nicht mehr, und blickt das zerknüllte, rote und stellenweise schmutzigweiße Kleid an.
    Obwohl ich keine Ahnung habe, was ich damit erreichen will, nehme ich das Kleid am Saum und streife es über den dunklen Kopf mit den sich windenden Adern. Sofort geschieht etwas mit ihr, das ich allerdings nicht einordnen kann. Eine Spannung erfüllt die
Luft, es wird kalt. Es ist schwer zu erklären – wie eine Brise, in der sich nichts bewegt. Ich ziehe ihr das alte Kleid über den blutigen Stoff von dem, das sie anhat und trete zurück. Anna schließt die Augen und atmet tief durch. Schwarze Wachsspuren kleben noch an dem Kleid, wo die Kerzen während des Fluchs getropft haben.
    »Was geschieht jetzt?«, flüstert Carmel.
    »Ich weiß es nicht«, antwortet Thomas an meiner Stelle.
    Plötzlich beginnen die Kleider gegeneinander zu kämpfen. Rotes Blut und schwarze Tropfen fallen herab und wollen miteinander verschmelzen. Anna hat die Augen geschlossen und die Hände zu Fäusten geballt. Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht, aber was es auch ist, es geht schnell. Jedes Mal, wenn ich blinzele, sehe ich danach ein neues Kleid: erst weiß, dann rot, dann schwarz und mit Blut getränkt. Es ist, als würden Öl, Farbe und andere Dinge im Sand versickern. Schließlich legt Anna den Kopf in den Nacken, und das verfluchte Kleid zerfällt, es zerbröselt und bleibt als Staubwolke vor ihren Füßen liegen.
    Die dunkle Göttin steht da und blickt mich an. Schwarze Tentakel zerfasern in der Brise, die Adern verschwinden wieder in den Armen und im Hals. Das Kleid ist makellos weiß. Die Verletzung, die ihr mein Dolch zugefügt hat, ist verschwunden.
    Ungläubig legt sie die Hand auf die Wange und blickt schüchtern zwischen Carmel und mir hin und her, dann zu Thomas, der sich einen Schritt zurückzieht.
Schließlich dreht sie sich um und geht zur offenen Haustür. Bevor sie hindurchtritt, sieht sie sich noch einmal über die Schulter zu mir um und lächelt mich an.

Wollte ich das wirklich? Ich habe sie freigelassen. Ich habe den Geist, den ich töten sollte, aus dem Gefängnis befreit. Sie geht mit weichen Schritten über die Veranda, setzt die Zehenspitzen auf die Treppenstufen und starrt in die Dunkelheit hinaus. Dabei verhält sie sich wie ein wildes Tier, das man aus dem Käfig

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