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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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herunter.
    Auf einmal habe ich das Bedürfnis, die Augen fest zu schließen, aber ich kann den Blick nicht abwenden. Sie trägt das weiße Kleid. Es ist das Kleid, in dem sie sterben wird, aber es sieht jetzt anders aus als im Tod.
    Das Mädchen steht am Fuß der Treppe, mit einem Beutel Kleidung in der Hand, und muss zusehen, wie Malvina und Elias wütend werden. Sie wirkt unglaublich lebendig. Ihre Haltung ist stark und aufrecht, die Schultern gehoben, das dunkle Haar fällt in Wellen auf ihren Rücken. Sie reckt das Kinn. Ich wünschte, ich könnte die Augen sehen, und stelle mir vor, dass sie traurig und triumphierend zugleich sind.
    »Was hast du vor?«, fragt Malvina, während sie entsetzt ihre Tochter betrachtet, als wüsste sie nicht, wer da vor ihr steht. Die Luft um sie scheint zu wallen, und ich ahne einen Hauch der Macht, die Thomas erwähnt hat.
    »Ich gehe zum Tanzabend«, erwidert Anna ruhig, »und ich komme nicht mehr nach Hause.«
    »Du gehst nicht zum Tanzabend«, erwidert Malvina
eisig und steht auf. Sie bewegt sich wie ein Raubtier, das seine Beute belauert. »In diesem widerlichen Kleid gehst du nirgendwohin.« Sie nähert sich ihrer Tochter, blinzelt und schluckt schwer, als werde ihr übel. »Du trägst weiß, wie eine Braut, aber welcher Mann wird dich noch nehmen, nachdem die Schuljungen dir den Rock gehoben haben?« Sie holt mit dem Kopf aus wie eine Giftschlange und spuckt Anna ins Gesicht. »Dein Vater würde sich schämen.«
    Anna rührt sich nicht. Ihr Brustkorb, der sich rasch hebt und senkt, ist das Einzige, was ihre Gefühle verrät.
    »Papa hat mich geliebt«, erwidert sie leise. »Ich weiß nicht, warum du mich nicht liebst.«
    »Böse Mädchen sind nutzlos und dumm«, sagt Malvina mit einer geringschätzigen Handbewegung. Mir ist nicht ganz klar, was sie damit meint. Vielleicht spricht sie unsere Sprache nicht gut genug, oder sie ist beschränkt. Wahrscheinlich Letzteres.
    Die Galle steigt mir hoch, als ich diese Szene beobachte. Ich habe noch nie erlebt, wie jemand so mit seinem Kind gesprochen hat. Ich will die Hände ausstrecken und die Mutter schütteln, damit sie zu sich kommt. Oder bis ich etwas brechen höre.
    »Geh nach oben und zieh das aus«, befiehlt Malvina. »Und dann bringst du es herunter und verbrennst es.«
    Annas Hand, die den Beutel hält, spannt sich. Alles, was sie besitzt, steckt in dem kleinen, braunen Beutel und wird mit einer Schnur zusammengehalten. »Nein«, erwidert sie ruhig. »Ich gehe hier weg.«
    Malvina lacht. Es ist ein sprödes, rasselndes Geräusch. Ein dunkler Glanz entsteht in ihren Augen.
    »Elias«, sagt sie. »Bring meine Tochter in ihr Zimmer und zieh ihr das Kleid aus.«
    Mein Gott, denkt Thomas. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Carmel sich die Hand auf den Mund legt. Ich will das nicht sehen. Ich will es nicht wissen. Wenn der Mann sie berührt, breche ich den Kreis. Es ist mir egal, dass es nur eine Erinnerung ist. Es ist mir egal, dass ich unbedingt wissen muss, was passiert ist. Ich breche ihm das Genick.
    »Nein, Mama«, sagt Anna voller Angst. Doch als Elias auf sie zugeht, richtet sie sich auf. »Ich lasse ihn nicht in meine Nähe kommen.«
    »Ich werde bald dein Vater sein, Anna«, entgegnet Elias. Mir wird übel, wenn ich es nur höre. »Du musst mir gehorchen.« Aufgeregt leckt er sich die Lippen. Anna, die Anna im blutroten Kleid, beginnt hinter mir zu knurren.
    Als Elias sich ihr weiter nähert, dreht Anna sich um und rennt zur Tür, doch er erwischt sie am Arm und dreht ihn ihr auf den Rücken. Dabei kommt er ihr so nahe, dass ihm ihre Haare ins Gesicht fliegen. So nahe, dass sie seinen heißen Atem auf der Haut spüren muss. Schon tastet er sie ab und packt das Kleid. Malvinas Miene zeigt eine schreckliche Mischung aus Freude und Hass. Anna schlägt um sich und schreit mit zusammengebissenen Zähnen, wirft den Kopf zurück und trifft Elias’ Nase. Nicht so fest, dass sie blutet, aber fest genug, um ihm wehzutun. Sie kann
sich befreien und läuft in die Küche, wo es eine Hintertür gibt.
    »Du wirst das Haus nicht verlassen!«, kreischt Malvina und folgt ihr. Sie packt Anna an den Haaren und reißt sie zurück. »Du wirst dieses Haus niemals, niemals verlassen!«
    »Das werde ich doch!«, ruft Anna und stößt die Mutter fort. Malvina prallt gegen eine große Holzkommode und strauchelt. Anna weicht ihr aus, übersieht dabei aber Elias, der sich am Fuß der Treppe gerade wieder sammelt. Ich will ihr zurufen, sie solle sich

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