Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
die Nase hält, erkenne ich, was es ist. Das Kleid, das sie für den Tanzabend genäht hat. Das Kleid, in dem sie gestorben ist.
Das perverse Schwein. Thomas hat uns den Gedanken geschickt. Ich balle die Hände zu Fäusten. Der Drang, mich auf den Mann zu stürzen, ist überwältigend, obwohl ich etwas beobachte, das sich vor fast sechzig Jahren abgespielt hat. Ich betrachte die Szene, als liefe sie auf einer Leinwand ab, und kann sie nicht verändern.
Ein Zeitsprung, das Licht wechselt. Die Lampen scheinen etwas heller zu sein, Gestalten huschen als verschwommene Schemen vorbei. Ich nehme verschiedene Geräusche wahr, gedämpfte Unterhaltungen, einen Streit. Viel verstehen kann ich nicht.
Am Fuß der Treppe steht jetzt eine Frau. Sie trägt ein strenges, schwarzes Kleid, das wahrscheinlich schrecklich kratzt, und hat sich die Haare zu einem festen Knoten zusammengebunden. Sie blickt zum ersten Stock hinauf, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen kann. Allerdings sehe ich, dass sie Annas Kleid in der Hand hat und es schüttelt. In der anderen hat sie einen Rosenkranz.
Ich fühle mehr, als dass ich es höre, wie Thomas schnuppert. Seine Wangen zucken – er hat etwas wahrgenommen.
Macht, denkt er. Die schwarze Macht.
Ich weiß nicht, was er meint, habe aber keine Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen.
»Anna!«, ruft die Frau. Das Mädchen erscheint am oberen Ende der Treppe.
»Ja, Mama?«
Die Mutter hält das zusammengeknüllte Kleid hoch. »Was ist das?«
Anna ist erschüttert und tastet nach dem Geländer. »Woher hast du das? Wie hast du es gefunden?«
»Es war in ihrem Zimmer.« Er ist es wieder, er kommt aus der Küche. »Ich habe gehört, wie sie sagte, sie wolle daran arbeiten. Ich habe es ihr zu ihrem eigenen Besten weggenommen.«
»Ist das wahr?«, fragt die Mutter. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das ist für einen Tanzabend, Mama«, sagt Anna zornig. »Für einen Tanzabend in der Schule.«
»Das hier?« Die Mutter hebt das Kleid und zieht es mit beiden Händen auseinander. »Das ist zum Tanzen?« Sie schüttelt es. »Hure! Du wirst nicht zum Tanzen gehen, du verdorbenes Mädchen. Du wirst das Haus nicht verlassen!«
Oben auf der Treppe ertönt eine weichere, freundlichere Stimme. Eine Frau mit olivbrauner Haut und langen, schwarzen Haaren, die sie zu einem Zopf geflochten hat, fasst Anna bei den Schultern. Es muss die Näherin Maria sein, die sich mit Anna angefreundet hat, nachdem sie die eigene Tochter in Spanien zurücklassen musste.
»Seien Sie nicht so zornig, Mrs. Korlov«, sagt Maria rasch. »Ich habe ihr geholfen. Es war meine Idee. Ein Mädchen braucht doch ein hübsches Kleid.«
»Sie«, faucht Mrs. Korlov. »Sie haben alles nur schlimmer gemacht, Sie haben meiner Tochter Ihren spanischen Unrat eingeflüstert. Seit Sie hier sind, ist sie immer aufsässiger geworden. Stolz. Ich will nicht, dass Sie mit ihr tuscheln. Verlassen Sie dieses Haus!«
»Nein!«, ruft Anna.
Der Mann macht einen Schritt auf seine Verlobte zu. »Malvina«, sagt er. »Wir können doch nicht unsere Pensionsgäste vergraulen.«
»Still, Elias«, faucht Malvina. Allmählich verstehe ich, warum Anna ihrer Mutter nicht sagen konnte, worauf Elias es abgesehen hatte.
Die Szene läuft jetzt schneller ab. Ich kann eher fühlen als sehen, was vor sich geht. Malvina wirft Anna das Kleid zu und befiehlt ihr, es zu verbrennen. Sie versetzt ihrer Tochter eine Ohrfeige, als Anna sie überreden will, Maria bleiben zu lassen. Anna weint, aber es ist nur die Anna in den Erinnerungen. Die echte Anna faucht, während sie zusieht, und ihr schwarzes Blut kocht. Ich glaube, eine Mischung aus den beiden wäre nicht übel.
Die Zeit verstreicht, und ich verfolge angestrengt, wie Maria mit ihrem einzigen Koffer weggeht. Anna fragt, was Maria jetzt tun wird, und fleht sie an, sie solle doch in der Nähe bleiben. Dann gehen alle Lampen bis auf eine aus, draußen vor den Fenstern ist es dunkel.
Malvina und Elias sitzen im Wohnzimmer. Malvina
strickt mit dunkelblauer Wolle, Elias liest die Zeitung und raucht eine Pfeife. Sie wirken elend, selbst wenn sie am Abend gemütlich beisammensitzen. Die Gesichter sind schlaff und gelangweilt, die Münder zu schmalen, bösen Linien zusammengepresst. Ich habe keine Ahnung, wie er um sie geworben hat, aber es war vermutlich ebenso interessant wie die Fernseh-übertragung eines Bowlingwettbewerbs. Ich denke an Anna – wir alle denken an sie –, und als hätten wir sie gerufen, kommt sie die Treppe
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