Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Moskau Verständnis haben. Ist denn das ein Leben? Ich lebe ja eigentlich gar nicht; ich warte auf
    die Lösung des Knotens, die sich immer länger und länger hinauszieht. Wieder keine Antwort! Und Stiwa sagt, er
    könne nicht zu Alexei Alexandrowitsch fahren. Ich aber kann nicht noch einmal an ihn schreiben. Ich kann nichts
    tun, nichts anfangen, nichts ändern; ich bezwinge mich, ich warte, ich ersinne mir allerlei Zeitvertreib: die
    Familie des Engländers, Schriftstellerei, Lesen; aber all das ist nur eine Täuschung, gerade wie das Morphium. Er
    sollte Mitleid mit mir haben‹, dachte sie und fühlte, wie ihr die Tränen des Mitleids mit sich selbst in die Augen
    traten.
    Sie hörte Wronskis kräftiges Klingeln und wischte sich eilig diese Tränen weg; und sie wischte sich nicht nur
    die Tränen weg, sondern setzte sich auch an die Lampe und schlug ein Buch auf und stellte sich, als sei sie in
    ruhiger Stimmung. Sie mußte ihm zeigen, daß sie damit unzufrieden war, daß er nicht so früh zurückgekommen war, wie
    er es versprochen hatte; jedoch nur Unzufriedenheit durfte sie ihm zeigen, aber ja nicht ihren Kummer und am
    allerwenigsten, daß sie sich selbst bemitleidete. Sie durfte sich selbst bemitleiden, nicht aber er sie. Sie
    wünschte keinen Kampf mit ihm, machte vielmehr ihm den Vorwurf, daß er es auf einen Kampf mit ihr anlege; aber
    unwillkürlich setzte sie sich doch selbst in Kampfhaltung.
    »Nun, hast du dich auch nicht gelangweilt?« fragte er lebhaft und heiter, indem er zu ihr herantrat. »Welch
    furchtbare Leidenschaft doch das Spiel ist!«
    »Nein, ich habe mich nicht gelangweilt; das habe ich mir längst abgewöhnt. Stiwa und Ljewin sind hier
    gewesen.«
    »Ja, sie wollten dir einen Besuch machen. Nun, wie hat dir Ljewin gefallen?« sagte er und setzte sich neben
    sie.
    »Sehr gut. Sie sind erst vor kurzem weggefahren. Wie ist es denn Jaschwin ergangen?«
    »Er war im Gewinnen, siebzehntausend Rubel. Ich rief ihn ab, und er war schon ganz dicht daran, wegzufahren.
    Aber da kehrte er wieder um und ist jetzt im Verlieren.«
    »Warum bist du denn also eigentlich dort geblieben?« fragte sie, indem sie plötzlich die Augen zu ihm in die
    Höhe hob. Der Ausdruck ihres Gesichtes war kalt und feindselig. »Zu Stiwa hast du gesagt, du wolltest dableiben, um
    Jaschwin fortzuschaffen. Und nun hast du ihn doch allein dort gelassen.«
    Derselbe Ausdruck kalter Kampfbereitschaft spiegelte sich jetzt auch auf seinem Gesichte wider.
    »Erstens habe ich ihn nicht ersucht, dir etwas zu bestellen, und zweitens sage ich niemals die Unwahrheit. Die
    Hauptsache ist aber: ich wollte noch dableiben, und darum blieb ich eben da«, erwiderte er mit finsterer Miene.
    »Anna, wozu das, wozu das?« fügte er nach einem kurzen Stillschweigen hinzu, indem er sich zu ihr beugte, und hielt
    ihr seine geöffnete Hand hin, in der Hoffnung, daß sie die ihrige hineinlegen werde.
    Sie freute sich über diese Aufforderung zur Zärtlichkeit. Aber eine Art von bösem Geist hinderte sie, ihrem
    inneren Triebe zu folgen, wie wenn die Kampfregeln ihr verböten, sich zu ergeben.
    »Natürlich, du wolltest dableiben, und darum bliebst du da. Du tust eben alles, was du willst. Aber warum sagst
    du mir das? Zu welchem Zwecke?« sagte sie, immer heftiger werdend. »Bestreitet denn jemand dein Recht? Aber du
    willst, daß ich dein Recht ausdrücklich anerkenne; nun meinetwegen: du hast das Recht dazu.«
    Seine Hand schloß sich wieder; er lehnte sich zurück, und der Ausdruck seines Gesichtes wurde noch trotziger als
    vorher.
    »Bei dir ist es nur Starrsinn«, sagte sie, nachdem sie ihn prüfend angesehen und plötzlich die Bezeichnung für
    diesen Gesichtsausdruck gefunden hatte, der sie so aufbrachte. »Nichts als Starrsinn. Für dich handelt es sich nur
    um die Frage, ob du Sieger über mich bleibst; aber für mich ...« Wieder überkam sie ein gewaltiges Mitleid mit sich
    selbst, und sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. »Wenn du wüßtest, worum es sich für mich handelt! Wenn du
    wüßtest, was das für mich zu bedeuten hat, wenn ich, wie jetzt, sehe, daß du mir feindlich, jawohl feindlich,
    gegenübertrittst! Wenn du wüßtest, wie nahe ich in solchen Augenblicken einem Unglück bin, wie ich mich fürchte,
    mich vor mir selbst fürchte!« Sie wandte sich weg und suchte ihr Schluchzen zu verbergen.
    »Worüber regst du dich nur auf?« sagte er, erschrocken über einen solchen Ausbruch von Verzweiflung, beugte sieh
    wieder zu

Weitere Kostenlose Bücher