Anna Karenina
ihr, nahm ihre Hand und küßte sie. »Aus welchem Grunde? Suche ich etwa Zerstreuung außerhalb des Hauses?
Vermeide ich etwa nicht die Gesellschaft anderer Frauen?«
»Das fehlte auch noch!« sagte sie.
»Nun, so sage doch, was ich tun soll, damit du dich beruhigst. Ich bin bereit, alles zu tun, damit du dich
glücklich fühlst«, sagte er, gerührt von ihrer Verzweiflung. »Was würde ich nicht tun, um dir ein Leid wie das
jetzige zu ersparen, Anna!«
»Laß gut sein, laß gut sein«, erwiderte sie. »Ich weiß selbst nicht, was mir fehlt: das einsame Leben, die
Nerven ... Nun, wir wollen nicht weiter davon reden. Wie war denn das Rennen? Du hast mir noch nichts davon
erzählt«, sagte sie und bemühte sich, das Empfinden von Genugtuung darüber zu verbergen, daß der Sieg nun doch auf
ihrer Seite geblieben war.
Er gab Befehl, das Abendessen aufzutragen, und erzählte ihr Einzelheiten vom Rennen; aber an seinem Ton und an
seinen Blicken, die immer kälter wurden, merkte sie, daß er ihr ihren Sieg nicht verziehen hatte, daß jener
Starrsinn, gegen den sie ankämpfte, wieder in ihm mächtig geworden war. Er war gegen sie kälter als vorher, wie
wenn er bereute, sich ihr gefügt zu haben. Und indem sie sich der Worte erinnerte, die ihr den Sieg verschafft
hatten, nämlich: »Ich bin einem schrecklichen Unglück nahe und fürchte mich vor mir selbst«, sagte sie sich, daß
dies eine gefährliche Waffe sei und daß sie sie kein zweites Mal gebrauchen dürfe. Sie fühlte, daß neben der Liebe,
die sie beide miteinander verband, sich zwischen ihnen der böse Geist der Zwietracht festgesetzt hatte, den sie
weder aus seinem, noch weniger aus ihrem eigenen Herzen zu vertreiben vermochte.
13
Es gibt keine Lebensverhältnisse, an die sich jemand nicht gewöhnen könnte, namentlich wenn er sieht, daß alle
Leute um ihn herum in der gleichen Weise leben. Ljewin hätte drei Monate vorher nicht geglaubt, daß er in den
Verhältnissen, in denen er sich befand, ruhig einschlafen könne: bei einem Leben ohne Zweck und Ziel, ohne Sinn und
Verstand, das überdies noch seine Mittel überstieg; ferner nach einem Zechgelage (denn anders konnte er das, was im
Klub vorgegangen war, nicht nennen); ferner nachdem er ein unschickliches Freundschaftsverhältnis mit einem Manne
hergestellt hatte, in den seine Frau früher einmal verliebt gewesen war, und einen noch unschicklicheren Besuch bei
einer Frau gemacht hatte, die man nur als eine Verlorene bezeichnen konnte, und sich von dieser Frau hatte
bezaubern lassen und dadurch seine eigene Frau tief gekränkt hatte, daß er unter solchen Umständen ruhig
einschlafen könnte, hätte er nie geglaubt. Aber infolge der vorangegangenen geistigen Ermüdung, des Wachens bis
tief in die Nacht hinein und des genossenen Weines versank er in einen festen, ruhigen Schlaf.
Um fünf Uhr wachte er auf von dem Knarren einer Tür, die geöffnet wurde. Er fuhr in die Höhe und blickte um
sich. Kitty lag nicht neben ihm auf dem Bette. Aber hinter der spanischen Wand bewegte sich ein Licht hin und her,
und er hörte ihre Schritte.
»Was ist? ... Was ist?« rief er schlaftrunken. »Kitty! Was ist?«
»Nichts Besonderes«, antwortete sie, indem sie mit dem Lichte in der Hand hinter der spanischen Wand hervorkam.
»Ich fühlte mich nicht ganz wohl«, fuhr sie mit einem besonders lieblichen, bedeutsamen Lächeln fort.
»Wie ist's? Hat es angefangen? Hat es angefangen?« fragte er erschrocken. »Dann müssen wir hinschicken!« Er
begann sich eilig anzuziehen.
»Nein, nein«, sagte sie lächelnd und hielt ihn mit der Hand zurück. »Es wird gewiß nichts sein. Es war mir nur
ein wenig unwohl. Aber jetzt ist es wieder vorbei.«
Sie ging zum Bett, löschte das Licht aus, legte sich hin und verhielt sich ganz still. Verdächtig war ihm
allerdings die Unhörbarkeit ihres Atems, dessen Geräusch sie anscheinend unterdrückte, und vor allem der Ausdruck
besonderer Zärtlichkeit und Erregung, mit dem sie beim Hervortreten hinter der spanischen Wand zu ihm gesagt hatte:
»Nichts Besonderes«; aber er war so schläfrig, daß er sofort wieder einschlief. Erst in späterer Zeit erinnerte er
sich daran, wie sie absichtlich leise geatmet hatte, und verstand alles, was in ihrer lieben, herrlichen Seele
vorgegangen war, während sie so, ohne sich zu rühren, in Erwartung des größten Ereignisses im Frauenleben neben ihm
dagelegen hatte. Um sieben Uhr weckte ihn eine Berührung seiner
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