Anna Karenina
er nicht. Er begriff auch nicht, warum die Fürstin ihn an der Hand faßte, ihn mitleidig
ansah und ihn bat, er möchte sich doch beruhigen, und warum Dolly ihm zuredete, doch ein bißchen zu essen, und ihn
aus dem Zimmer führte und sogar der Arzt ihn ernst und teilnahmsvoll anblickte und ihm riet, Tropfen zu nehmen.
Er wußte und fühlte nur, daß das, was hier vorging, Ähnlichkeit hatte mit dem, was vor einer Reihe von Monaten
in dem Gasthause der Gouvernementsstadt am Sterbebett seines Bruders Nikolai vorgegangen war. Nur war jenes dort
Leid gewesen, und dies hier war Freude. Aber sowohl jenes Leid wie auch diese Freude lagen in gleicher Weise
außerhalb aller gewöhnlichen Lebensverhältnisse und waren in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch
die man zu etwas Höherem hindurchblicken konnte. Und in gleich bedrückender, qualvoller Weise rückte das, was sich
vollzog, heran, und in gleich unbegreiflicher Weise erhob sich bei der Anschauung dieses Höheren die Seele zu einer
Höhe, die sie nie vorher auch nur geahnt hatte und zu der der Verstand ihr nicht zu folgen vermochte.
»Herrgott, vergib uns und hilf uns!« sprach er ein über das andere Mal vor sich hin, und trotz seiner
langjährigen und anscheinend völligen Entfremdung hatte er die Empfindung, daß er sich mit derselben Unbefangenheit
und demselben Vertrauen an Gott wandte wie in der Zeit seiner Kindheit und ersten Jugend.
Diese ganze Zeit über wechselten bei ihm zwei verschiedene Seelenstimmungen miteinander ab. In der einen befand
er sich, wenn er nicht bei Kitty, sondern mit dem Arzt zusammen war der eine dicke Zigarre nach der anderen rauchte
und sie am Rande des bereits vollen Aschenbechers abstrich, oder mit Dolly und dem Fürsten zusammen, wo dann über
das Mittagessen und über Politik und über Marja Petrownas Krankheit gesprochen wurde und er auf einmal für einen
Augenblick vollständig vergaß, was vorging, und so wenig Erinnerung hatte wie jemand, der aus dem Schlafe aufwacht.
Und in der anderen Stimmung befand er sich, wenn er bei Kitty war und am Kopfende ihres Bettes stand und ihm das
Herz vor Mitleid brechen wollte und doch nicht brach und er fortwährend zu Gott betete. Und jedesmal, wenn ihn aus
dem zeitweiligen Zustande des Vergessens ein aus dem Schlafzimmer herüberdringender Schrei aufrüttelte, geriet er
in jenen sonderbaren Irrtum, der ihn im ersten Augenblick befallen hatte: jedesmal, wenn er einen solchen Schrei
hörte, sprang er auf und lief hin, um sich zu rechtfertigen; und dann fiel ihm unterwegs ein, daß er ja keine
Schuld trage, und er wollte sie beschützen und ihr helfen. Aber wenn er sie dann anblickte, so sah er wieder, daß
er ihr nicht helfen könne, und geriet in Angst und Entsetzen und stöhnte: »Herrgott, vergib uns und hilf uns!« Und
je mehr die Zeit verging, um so mehr steigerten sich diese beiden Seelenstimmungen: um so ruhiger wurde er, sobald
er nicht bei ihr war, ja er vergaß sie vollständig, und um so mehr Qual bereitete ihm an ihrem Lager der Anblick
ihrer Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit ihnen gegenüber. Er sprang dann auf und wollte irgendwohin flüchten,
kam aber doch wieder zu ihr zurückgelaufen.
Manchmal, wenn sie ihn immer wieder und wieder zu sich rief, machte er ihr das im stillen zum Vorwurf. Aber wenn
er dann ihr demutvolles, lächelndes Gesicht sah und die Worte hörte: »Ich mache dir so viel Pein«, dann wendete er
seinen Vorwurf gegen Gott; aber sowie er an Gott dachte, betete er sogleich um Vergebung und Barmherzigkeit.
15
Er wußte nicht, ob es spät oder früh sei. Die Lichter waren schon tief herabgebrannt. Dolly war eben im
Arbeitszimmer gewesen und hatte den Arzt gebeten, sich doch auf dem Sofa zur Ruhe zu legen. Ljewin saß bei ihm,
hörte seine Erzählungen von einem marktschreierischen Magnetiseur an und blickte unverwandt nach der Asche an der
Zigarre des Arztes. Es war wieder einmal eine Zeit der Erholung für ihn, und er hatte all das Schreckliche
vergessen. Er dachte mit keinem Gedanken an das, was jetzt vorging. Er hörte die Erzählung des Arztes und verstand
sie. Plötzlich ertönte ein Schreien, wie er es noch nie gehört hatte. Dieses Schreien war so furchtbar, daß Ljewin
nicht einmal aufsprang, sondern nur, ohne Atem zu holen, mit einem erschrocken fragenden Blick den Arzt ansah. Der
Arzt hatte den Kopf zur Seite geneigt, horchte und lächelte befriedigt. Alles war diese ganze Zeit her
Weitere Kostenlose Bücher