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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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so
    ungewöhnlich gewesen, daß Ljewin jetzt durch nichts mehr in Erstaunen versetzt wurde. ›Es wird wohl so sein
    müssen‹, dachte er und blieb sitzen. Aber dann kam ihm der Gedanke: ›Wer hat so geschrien?‹ Er sprang auf, lief auf
    den Fußspitzen in das Schlafzimmer, ging um Jelisaweta Petrowna und die Fürstin herum und stellte sich auf seinen
    Platz am Kopfende. Das Schreien war verstummt; aber irgend etwas hatte sich verändert. Was sich verändert hatte,
    das sah und verstand er nicht, und er wollte es auch nicht sehen und verstehen. Aber er merkte es an Jelisaweta
    Petrownas Gesicht: dieses Gesicht war ernst und blaß, und obwohl es ebenso fest und entschlossen aussah wie vorher,
    so zuckte doch die Kinnlade ein wenig und die Augen waren unverwandt auf Kitty gerichtet. Kittys glühendes,
    abgequältes Gesicht, auf dessen schweißfeuchter Haut eine Haarsträhne festklebte, war zu ihm gewendet und suchte
    seinen Blick. Die aufgehobenen Hände verlangten nach den seinigen. Mit ihren von Schweiß glühenden Händen ergriff
    sie seine kalten Hände und drückte sie an ihr Gesicht.
    »Geh nicht weg, geh nicht weg! Ich fürchte mich nicht, ich fürchte mich nicht!« sagte sie hastig. »Mama, nehmen
    Sie mir die Ohrringe ab; sie belästigen mich. Du fürchtest dich doch nicht? Schnell, schnell, Jelisaweta Petrowna
    ...«
    Sie sprach hastig, ganz hastig und versuchte zu lächeln. Aber auf einmal verzerrte sich ihr Gesicht, und sie
    stieß ihn von sich zurück.
    »Nein, das ist entsetzlich! Ich sterbe, ich sterbe! Geh, geh!« schrie sie, und wieder ertönte dasselbe
    unnatürliche, grauenhafte Schreien.
    Ljewin faßte sich an den Kopf und lief aus dem Zimmer hinaus.
    »Es ist nichts Schlimmes, es ist nichts Schlimmes, es geht alles gut!« rief ihm Dolly nach.
    Aber da mochte jemand sagen, was er wollte, Ljewin wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen den
    Türpfosten gelehnt, stand er im Nebenzimmer und hörte jemand in einer Weise kreischen und heulen, wie es seinen
    Ohren ganz fremd war, und er wußte, was da so schrie, das war ehemals seine Kitty gewesen. Nach dem Kinde trug er
    schon längst kein Verlangen mehr. Er haßte jetzt dieses Kind sogar. Sein Wunsch ging jetzt nicht einmal darauf, daß
    sie am Leben bleiben, sondern nur darauf, daß diese furchtbaren Leiden aufhören möchten.
    »Doktor, was ist denn das? Was ist denn das? Mein Gott!« rief er und ergriff den hereinkommenden Arzt bei der
    Hand.
    »Es geht zu Ende«, antwortete der Arzt. Sein Gesicht war, als er das sagte, so ernst, daß Ljewin dieses »es geht
    zu Ende« in dem Sinne von »sie stirbt« auffaßte.
    Seiner Sinne nicht mächtig, lief er in das Schlafzimmer. Das erste, was er sah, war Jelisaweta Petrownas
    Gesicht. Es sah noch finsterer und strenger aus. Kittys Gesicht war nicht da. An der Stelle, wo dieses Gesicht
    früher gewesen war, befand sich etwas Furchtbares, furchtbar wegen der krampfhaften Verzerrung wie auch wegen der
    Laute, die von dort herkamen. Er warf sich mit dem Kopfe gegen das Holz der Bettstelle und meinte, das Herz müßte
    ihm vor Weh zerspringen. Das schreckliche Schreien schwieg keinen Augenblick, es wurde noch immer schrecklicher;
    dann, als hätte es die äußerste Grenze des Schrecklichen erreicht, verstummte es plötzlich. Ljewin traute seinen
    Ohren nicht; aber es war kein Zweifel: das Schreien war verstummt, und er hörte eine leise Geschäftigkeit, ein
    Rascheln, schnelle Atemzüge, und Kittys lebendige, zärtliche, glückliche Stimme sagte leise und fast versagend: »Es
    ist zu Ende.«
    Er hob den Kopf. Sie hatte die Arme kraftlos auf die Bettdecke sinken lassen und lag in überraschender Schönheit
    still da; schweigend blickte sie ihn an; sie wollte lächeln, aber sie konnte es nicht.
    Und plötzlich fühlte Ljewin sich aus jener geheimnisvollen, schrecklichen, fremden Welt, in der er diese
    zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, bekannte Welt zurückversetzt, die aber jetzt in einem neuen,
    so hellen Glanze des Glückes erstrahlte, daß er es nicht ertragen konnte. Die so lange straff angespannten Saiten
    rissen sämtlich. Ein Schluchzen und Freudentränen, auf die er gar nicht gefaßt gewesen war, überkamen ihn, seinen
    ganzen Körper erschütternd, mit solcher Gewalt, daß sie ihn lange Zeit am Sprechen hinderten.
    Er fiel vor dem Bett auf die Knie, hielt die Hand seiner Frau an seine Lippen und küßte sie wieder und wieder,
    und diese Hand antwortete durch eine schwache

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