Anna Karenina
Gefühle fest in
seinem Innern zu verschließen, seine Frau nicht aufzuregen, sondern sie im Gegenteil zu beruhigen und ihren Mut zu
stärken und so das, was ihm bevorstand, zu ertragen. Er hatte beschlossen, gar nicht darüber nachzudenken, was da
geschehen und womit es enden werde, sondern auf Grund der erhaltenen Auskunft über die gewöhnliche Dauer dieses
Vorganges hatte er sich in Gedanken vorgenommen, etwa fünf Stunden lang auszuharren und sein Herz hart und fest zu
machen, und das war ihm möglich erschienen. Aber als er vom Arzt zurückgekehrt war und wieder Zeuge von Kittys
Leiden wurde, da begann er immer häufiger: »Herrgott, vergib uns, hilf uns!« zu stöhnen und zu seufzen und die
Augen zu erheben, und er fürchtete, er werde es nicht aushalten können, sondern losweinen oder davonlaufen müssen:
so entsetzlich war ihm zumute. Und doch war erst eine Stunde vergangen.
Aber nach dieser einen Stunde verging noch eine Stunde, zwei, drei Stunden; nun waren sämtliche fünf Stunden
vergangen, die er als die äußerste Dauer seiner Geduld in Aussicht genommen hatte, und doch war die Lage noch immer
unverändert; und er harrte weiter aus, weil ihm eben nichts anderes übrigblieb als auszuharren, und dachte jeden
Augenblick, nun sei er an der äußersten Grenze seiner Ausdauer angelangt und sein Herz müsse ihm gleich vor Mitleid
brechen.
Aber es vergingen noch Minuten und Stunden und aber Stunden, und seine Pein und Angst wuchs und stieg immer
mehr.
Die gewöhnlichsten Grundanschauungen, ohne die man sich im Leben eigentlich nichts vorstellen kann, bestanden
alle für Ljewin nicht mehr. Er hatte das Maßgefühl für die Zeit verloren. Bald erschienen ihm Minuten (jene
Minuten, wo sie ihn zu sich rief und er ihre schweißbedeckte Hand hielt, mit der sie manch mal die seinige mit
ungewöhnlicher Kraft drückte und manchmal ihn von sich zurückstieß) wie Stunden, bald Stunden wie Minuten. Er war
erstaunt, als Jelisaweta Petrowna ihn bat, hinter der spanischen Wand ein Licht anzuzünden, und er dabei erfuhr,
daß es schon fünf Uhr abends sei. Hätte ihm jemand gesagt, es sei jetzt erst zehn Uhr morgens, er hätte auch das
geglaubt. Wo er während dieser Zeit gewesen war, das wußte er ebensowenig, wie wann dies und das geschehen war. Er
hatte Kittys heißes Gesicht gesehen, das bald einen stumpfen, leidenden Ausdruck zeigte, bald ihn anlächelte und
ihn zu beruhigen suchte. Er hatte auch die Fürstin gesehen: ihren roten Kopf, die ängstliche Spannung in ihren
Zügen, die wirr herabhängenden grauen Locken, wie sie mit Gewalt die Tränen unterdrückte und sich auf die Lippen
biß. Er hatte auch Dolly gesehen und den Arzt, der dicke Zigarren rauchte, und Jelisaweta Petrowna mit dem festen,
entschlossenen Gesichtsausdruck, von dem eine beruhigende Wirkung auszugehen schien, und den alten Fürsten, der mit
finsterer Miene im Saale auf und ab ging. Aber wie sie hereingekommen und wieder hinausgegangen waren, und wo sie
gewesen waren, das wußte er nicht. Bald war die Fürstin mit dem Arzt im Schlafzimmer gewesen, bald im
Arbeitszimmer, wo sich auf einmal ein gedeckter Tisch eingefunden hatte; bald wieder war nicht sie dagewesen,
sondern Dolly. Ljewin erinnerte sich, daß er einmal aus dem Hause geschickt worden war, um irgend etwas zu holen.
Einmal war er beauftragt worden, einen Tisch und ein Sofa in ein anderes Zimmer zu bringen. Er hatte das mit großem
Eifer getan, in der Meinung, es sei irgendwie für Kitty notwendig, und erst nachher erfahren, daß er damit ein
Nachtlager für sich selbst zurechtgemacht habe. Dann hatte man ihn zum Arzt ins Arbeitszimmer geschickt, um ihn
nach irgend etwas zu fragen. Der Arzt hatte die Frage beantwortet und dann über die Ungehörigkeiten in der
Stadtverordnetenversammlung zu reden angefangen. Dann hatte man ihn nach dem Hause der Fürstin geschickt, um aus
deren Schlafzimmer ein Heiligenbild in silberner, vergoldeter Einfassung zu holen, und er war mit der alten
Kammerfrau der Fürstin auf ein Schränkchen gestiegen, um das Bild abzunehmen, und hatte dabei das Lämpchen vor dem
Bilde zerschlagen, und die Kammerfrau der Fürstin hatte ihn sowohl wegen seiner Frau wie auch wegen des Lämpchens
zu beruhigen gesucht, und er hatte das Heiligenbild nach seiner Wohnung gebracht und es an Kittys Kopfende
aufgestellt und es sorgsam mit dem unteren Rande hinter die Kissen geschoben. Aber wo, wann und wozu das alles
geschehen war, das wußte
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