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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Bewegung der Finger auf seine Küsse. Unterdessen aber flackerte am
    Fußende des Bettes in Jelisaweta Petrownas geschickten Händen wie das Flämmchen über einem Nachtlämpchen, noch
    unsicher, das Leben eines menschlichen Wesens, das vorher noch nicht da war und das ebenso wie alle anderen, mit
    demselben Rechte und demselben persönlichen Interesse, zu leben und seinesgleichen zu zeugen bestimmt war.
    »Es lebt, es lebt! Und noch dazu ein Knabe! Seien Sie ganz unbesorgt!« hörte Ljewin die Hebamme sagen, die mit
    zitternder Hand dem Kinde einen klatschenden Schlag auf den Rücken gab.
    »Mama, ist es wahr?« fragte Kitty.
    Nur ein Schluchzen der Fürstin gab ihr Antwort.
    Und mitten in dem Schweigen ertönte als eine jeden Zweifel ausschließende Antwort auf die Frage der jungen
    Mutter eine ganz andere Stimme als alle die gedämpft sprechenden im Zimmer. Es war der kecke, dreiste,
    rücksichtslose Schrei eines neuen menschlichen Wesens, das sich, ohne daß man gewußt hätte woher, eingefunden
    hatte.
    Wenn jemand ein Weilchen vorher zu Ljewin gesagt hätte, Kitty sei gestorben und er selbst auch, und sie hätten
    Kinder, die Engel seien, und Gott stehe unmittelbar vor ihren Augen da, so hätte er sich über nichts dabei
    gewundert; aber jetzt, wo er in die Welt der Wirklichkeit zurückgekehrt war, bedurfte es für ihn einer großen
    Anstrengung der Denkkraft, um zu begreifen, daß sie lebte und gesund war und daß dieses so verzweifelt schreiende
    Wesen sein Sohn war. Kitty lebte, ihre Qualen hatten ein Ende gefunden. Und er war unbeschreiblich glücklich. Daß
    Kitty gerettet war, das verstand er, und das machte ihn vollkommen glücklich. Aber das Kind? Woher war das
    gekommen? Wozu war es da? Wer war es? ... In diesen Gedanken konnte er sich durchaus nicht hineinfinden. Das Kind
    erschien ihm als etwas Überflüssiges, Unnötiges, und er vermochte sich lange nicht an diesen Zuwachs zu
    gewöhnen.

16
    Am Morgen zwischen neun und zehn Uhr saßen der alte Fürst Sergei Iwanowitsch und Stepan Arkadjewitsch bei Ljewin
    und unterhielten sich, nachdem sie über die Wöchnerin geredet hatten, nun auch von andersartigen Gegenständen.
    Ljewin hörte ihnen zu und dachte während dieser Gespräche unwillkürlich an die Vergangenheit, an die Zeit vor dem
    heutigen Morgen, er dachte auch an sich selbst, wer und was er noch gestern, vor diesem Ereignis, gewesen war. Es
    war ihm, als seien seitdem hundert Jahre vergangen. Er fühlte sich auf einer unerreichbaren Höhe, von der er erst
    mit bewußter Absicht hinabsteigen mußte, um diejenigen, mit denen er sprach, nicht zu verletzen. Er redete, dachte
    aber dabei unaufhörlich an seine Frau, an alle Einzelheiten ihres jetzigen Zustandes, und an seinen Sohn, bemüht,
    sich an den Gedanken, daß dieser da sei, zu gewöhnen. Das gesamte Frauenwesen, das schon nach seiner Verheiratung
    für ihn eine neue, ihm bis dahin unbekannte Wichtigkeit erhalten hatte, wuchs jetzt in seiner Vorstellung zu einer
    solchen Höhe heran, daß er es mit seiner Einbildungskraft nicht mehr umfassen konnte. Er hörte das Gespräch über
    das gestrige Mahl im Klub mit an und dachte: ›Was mag sie jetzt tun? Ob sie wohl eingeschlafen ist? Wie mag es ihr
    gehen? Was mag sie denken? Ob wohl unser Sohn Dmitri schreit?‹ Und mitten im Gespräch, mitten in einem Satze, den
    einer sprach, sprang er auf und ging aus dem Zimmer.
    »Laß mir sagen, ob ich zu ihr hinein kann«, rief ihm der alte Fürst zu.
    »Schön, sofort!« erwiderte Ljewin, ohne stehenzubleiben, und eilte zu Kitty.
    Sie schlief nicht, sondern redete leise mit ihrer Mutter; sie entwarfen Pläne für die bevorstehende Taufe.
    Sauber zurechtgemacht, gekämmt, in einem hübschen Häubchen mit etwas Himmelblauem daran, die Arme auf der
    Bettdecke ausgestreckt, so lag sie auf dem Rücken da, und als sie seinem Blick begegnete, zog sie ihn mit dem
    ihrigen zu sich heran. Ihr auch so schon heller Blick wurde immer noch heller, je mehr ihr Mann sich ihr näherte.
    Auf ihrem Gesicht hatte sich jener Übergang vom Irdischen zum Überirdischen vollzogen, den man häufig auf dem
    Gesicht Verstorbener wahrnimmt; aber da bedeutet diese Miene den Abschied von den Zurückbleibenden, hier bedeutete
    sie die Begrüßung eines neuen Ankömmlings. Wieder wurde sein Herz von einer Erregung ergriffen, ähnlich der, die er
    im Augenblick ihrer Entbindung durchgemacht hatte. Kitty ergriff seine Hand und fragte ihn, ob er geschlafen habe.
    Er war nicht imstande

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