Anna Karenina
Mitgefühl sprach aus Annuschkas kleinen,
gutmütigen, grauen Augen.
»Annuschka, liebe Annuschka, was soll ich tun?« sagte Anna schluchzend und ließ sich hilflos auf einen Sessel
sinken.
»Warum beunruhigen Sie sich so, Anna Arkadjewna! So etwas kommt ja überall vor. Fahren Sie aus; da werden Sie
auf andere Gedanken kommen«, sagte die Dienerin.
»Ja, ich will ausfahren«, sagte Anna mit wiedergewonnener Fassung und stand auf. »Wenn in meiner Abwesenheit ein
Telegramm kommen sollte, so soll es zu Darja Alexandrowna geschickt werden ... Oder nein, ich werde selbst bald
zurück sein.«
›Ja, ich darf nicht denken, ich muß irgend etwas tun: ausfahren, vor allen Dingen aus diesem Hause
herauskommen‹, sagte sie zu sich selbst und horchte voll Angst auf das furchtbare Pochen ihres Herzens. Sie ging
rasch aus dem Hause und setzte sich in den Wagen.
»Wohin befehlen Sie?« fragte der Diener Peter, bevor er zum Kutscher auf den Bock stieg.
»Nach der Snamenka, zu Oblonskis.«
28
Das Wetter war heiter und klar. Den ganzen Morgen über war ein dichter, feiner Regen gefallen, und erst vor
kurzem hatte es sich aufgehellt. Die Blechdächer, die Fußwegplatten, die Pflastersteine, die Räder und das
Lederzeug und die Messing- und Blechteile an den Wagen, alles glänzte hell in den Strahlen der Maisonne. Es war
drei Uhr, also die Zeit, wo es auf den Straßen am lebhaftesten zugeht.
In einer Ecke des sanft fahrenden Wagens sitzend, der sich bei dem schnellen Trabe der davorgespannten Grauen
kaum in den schmiegsamen Federn schaukelte, ging Anna, trotz des unaufhörlichen Rasselns der Räder und des
schnellen Wechsels der in der reinen Luft vorüberziehenden Bilder, von neuem die Ereignisse der letzten Tage in
ihrem Gedächtnisse durch und gelangte jetzt zu einer ganz anderen Auffassung ihrer Lage als vorher zu Hause. Jetzt
stand ihr der Gedanke an den Tod nicht mehr in so furchtbarer Klarheit vor Augen, und der Tod selbst erschien ihr
nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich Vorwürfe wegen der Selbstdemütigung, zu der sie sich herbeigelassen
hatte. ›Ich flehe ihn an, mir zu verzeihen. Ich habe mich ihm unterworfen, habe bekannt, daß ich an allem schuld
bin. Warum? Kann ich denn ohne ihn nicht leben?‹ Und ohne sich eine Antwort auf die Frage zu geben, wie sie es
anfangen wolle, ohne ihn zu leben, begann sie die Firmenschilder zu lesen. ›Kontor und Niederlage. Zahnarzt ... Ja,
ich will Dolly alles sagen. Sie kann Wronski nicht leiden. Ich werde mich dabei schämen müssen, und es wird mir ein
großer Schmerz sein; aber trotzdem will ich ihr alles sagen. Sie hat mich gern, und ich will ihrem Rate folgen. Ich
werde mich ihm nicht unterwerfen und nicht dulden, daß er den Versuch macht, mich zu erziehen. Filippow,
Feinbäckerei. Es heißt, daß manche Bäcker Teig von hier nach Petersburg schicken. Das Moskauer Wasser ist
vorzüglich. Ja, die Wasserleitung von Mütischtschi; daher auch die guten Pfannkuchen.‹ Und sie erinnerte sich, wie
sie vor langer, langer Zeit (sie war damals erst siebzehn Jahre alt gewesen) mit ihrer Tante nach dem Troizakloster
gefahren war. ›Damals fuhr man dorthin noch zu Wagen. War ich das wirklich, das Mädchen mit den roten Händen? Wie
vieles von dem, was mir damals so schön und unerreichbar schien, hat sich als nichtig erwiesen, und das, was damals
war, ist mir nun für ewig unerreichbar. Hätte ich wohl damals geglaubt, daß ich bis zu einem solchen Grade der
Selbstdemütigung gelangen könnte? Wie stolz und zufrieden er sein wird, wenn er meinen Brief bekommt! Aber ich
werde ihm beweisen ... Wie schlecht diese Farbe riecht. Warum die Leute nur immerzu bauen und anstreichen? Moden-
und Putzgeschäft‹, las sie. Ein Mann grüßte sie. Es war Annuschkas Ehemann. ›Unsere Parasiten‹, sie erinnerte sich
an diesen Ausdruck, den Wronski von solchen Anhängseln ihres Haushaltes gebraucht hatte. ›Unsere? Warum unsere? Es
ist furchtbar, daß man die Vergangenheit nicht mit der Wurzel ausreißen kann. Sie zu vernichten ist nicht möglich;
man kann nur die Erinnerung daran zudecken. Und ich werde sie zudecken.‹ Und nun erinnerte sie sich ihres früheren
Zusammenlebens mit Alexei Alexandrowitsch und wie sie diese ganze Zeit aus ihrem Gedächtnisse weggewischt hatte.
›Dolly wird denken, daß ich nun schon den zweiten Mann verlasse und daß ich daher gewiß unrecht habe. Will ich denn
recht haben? Ich kann es ja doch nicht!‹ sagte sie
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