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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Empfindungen vor, wenn sie nun nicht mehr leben und für ihn nur noch
    eine Erinnerung sein würde. ›Wie habe ich nur so grausame Worte zu ihr sprechen können?‹ würde er sagen. ›Wie habe
    ich aus dem Zimmer gehen können, ohne mit ihr zu sprechen. Aber jetzt ist sie dahin. Sie ist für allezeit von uns
    gegangen. Sie ist dort ...‹ Plötzlich begann der Schatten des Bettschirms zu schwanken und dehnte sich über das
    ganze Gesims und die ganze Zimmerdecke aus; andere Schatten liefen ihm von der anderen Seite her entgegen; für
    einen Augenblick huschten die Schatten wieder davon; aber dann rückten sie von neuem mit erhöhter Geschwindigkeit
    heran, zuckten hin und her, flossen zusammen, und alles wurde dunkel. ›Das ist der Tod!‹ dachte sie. Und es packte
    sie eine solche Angst, daß sie lange nicht darüber ins klare kommen konnte, wo sie eigentlich war, und lange nicht
    imstande war, mit den zitternden Händen die Streichhölzer zu finden und eine andere Kerze für die heruntergebrannte
    und erloschene anzuzünden. ›Nein, alles, alles – nur leben, leben! Ich liebe ihn ja. Und er liebt mich ja auch.
    Dieser Streit ist abgetan und wird verklingen‹, sagte sie bei sich und fühlte, wie Tränen der Freude über die
    Rückkehr zum Leben über ihre Wangen liefen. Und um sich vor ihrer Angst zu retten, ging sie rasch zu ihm in sein
    Zimmer.
    Er lag dort in festem Schlafe. Sie trat zu ihm heran, beleuchtete sein Gesicht von oben her und betrachtete es
    lange. Jetzt, wo er schlafend vor ihr lag, liebte sie ihn so, daß sie bei seinem Anblick Tränen der Zärtlichkeit
    nicht zurückhalten konnte; aber sie wußte, daß, wenn er jetzt aufwachte, er sie im Gefühl seines Rechtes mit kaltem
    Blick ansehen würde, und daß sie, bevor sie zu ihm von ihrer Liebe sprechen könnte, ihm zuerst würde beweisen
    müssen, wie sehr er ihr gegenüber im Unrecht sei. So kehrte sie, ohne ihn geweckt zu haben, in ihr Zimmer zurück
    und versank nach einer zweiten Dosis Opium gegen Morgen in einen schweren Halbschlaf, währenddessen sie sich ihrer
    selbst die ganze Zeit über bewußt blieb.
    Ein schrecklicher Traum, der sich bei ihr schon mehrmals, noch vor der Verbindung mit Wronski, wiederholt hatte,
    ängstigte sie gegen Morgen wieder einmal und weckte sie auf: Ein altes Männchen mit wirrem Barte bückte sich über
    allerlei Eisenwerk und nahm damit irgend etwas vor, wobei er sinnlose französische Worte vor sich hinredete; und
    wie immer bei diesem Traume fühlte sie (und eben dies war das Beängstigende), daß dieser Mensch sie gar nicht
    beachtete, obwohl er seine furchtbare Tätigkeit an dem Eisen über ihrem Körper ausführte. Sie erwachte in kalten
    Schweiß gebadet.
    Als sie aufstand, erinnerte sie sich an den gestrigen Tag nur wie durch einen Nebel.
    ›Es hat ein Streit stattgefunden. Dergleichen ist schon mehrmals vorgekommen. Ich habe ihm sagen lassen, ich
    hätte Kopfschmerzen, und er ist nicht mehr zu mir hereingekommen. Morgen reisen wir ab; ich muß mit ihm sprechen
    und mich zur Abreise fertigmachen‹, sagte sie zu sich selbst. Als sie erfuhr, daß er in seinem Zimmer sei, ging sie
    zu ihm hin. Während sie durch das Besuchszimmer ging, hörte sie, daß vor der Haustür ein Wagen anhielt; sie sah
    durch das Fenster und erblickte eine Kutsche, aus der sich ein junges Mädchen mit einem lila Hut herausbeugte; das
    junge Mädchen rief dem Diener, der die Klingel zog, einen Befehl zu. Nachdem im Hausflur ein paar Worte gewechselt
    waren, kam jemand herauf, und in dem an das Besuchszimmer anstoßenden Raum wurden Wronskis Schritte vernehmbar. Er
    ging eilig die Treppe hinab. Anna trat wieder ans Fenster. Da kam er ohne Hut aus der Haustür heraus und trat zum
    Wagen. Das junge Mädchen mit dem lila Hut überreichte ihm ein Päckchen. Wronski sagte lächelnd einige Worte zu ihr.
    Der Wagen fuhr davon, und Wronski ging rasch wieder ins Haus zurück und stieg die Treppe hinauf.
    Der Nebel, der in ihrer Seele alles bedeckt hatte, teilte sich plötzlich. Die gestrigen Gefühle preßten ihr mit
    neuem Schmerz das kranke Herz zusammen. Sie konnte jetzt nicht begreifen, wie sie sich hatte so weit entwürdigen
    können, nach dem Streit noch einen ganzen Tag mit ihm in seinem Hause zuzubringen. Sie trat zu ihm ins Zimmer, um
    ihm ihren Entschluß mitzuteilen.
    »Da kam eben die Fürstin Sorokina mit ihrer Tochter vorgefahren und brachte mir von maman das Geld und die
    Papiere. Ich hatte sie gestern noch nicht bekommen

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