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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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mich zu kennen. Und dabei kennt er
    mich ebensowenig, wie mich sonst irgend jemand auf der Welt kennt. Kenne ich mich doch nicht einmal selbst. Ich
    kenne nur mes appétits 1 , wie die Franzosen sagen.
    Da, die Jungen da haben Appetit auf dieses unsaubere Fruchteis. Über diesen Wunsch sind sie mit sich im klaren‹,
    dachte sie beim Anblick zweier Jungen, die einen Eisverkäufer anhielten; der Eisverkäufer nahm seinen Kübel vom
    Kopfe und wischte sich mit einem Zipfel des Handtuchs den Schweiß vom Gesicht. ›Wir alle haben Appetit auf das, was
    süß ist und wohlschmeckt. Und wenn es nicht Konfekt sein kann, so nimmt man mit unsauberem Fruchteis fürlieb. Und
    so macht es Kitty auch: wenn nicht Wronski, dann Ljewin. Und sie beneidet mich. Und haßt mich. Und wir hassen uns
    alle wechselseitig. Ich hasse Kitty, und Kitty haßt mich. Ja, das ist wahr. Tjutkin, coiffeur‹, las sie an einem
    kleinen, schmierigen Geschäft. ›Je me fais coiffer par Tjutkin. 2 Das werde ich ihm sagen, wenn er nach Hause kommt‹, dachte sie und lächelte. Aber im
    selben Augenblick fiel ihr ein, daß sie ja jetzt niemanden mehr habe, dem sie etwas Lächerliches mitteilen könne.
    ›Es gibt ja auch nichts Lächerliches und Lustiges. Alles ist ekelhaft. Da wird zur Vesper geläutet, und dieser
    Kaufmann bekreuzt sich mit solcher Vorsicht, als ob er fürchtete, daß ihm dabei etwas hinfiele. Wozu sind diese
    Kirchen da und dieses Glockengeläute und diese ganze Lüge? Nur um zu verdecken, daß wir uns alle wechselseitig
    hassen, gerade wie diese Droschkenkutscher, die sich so wütend zanken. Jaschwin sagt: »Er will mich bis aufs Hemd
    ausplündern, und ich ihn.« Ja, das ist wahr.‹
    In diese Gedanken geriet sie so tief hinein, daß sie nicht einmal mehr an ihre Lage dachte und überrascht war,
    als der Wagen vor ihrer Haustür hielt. Als sie den Pförtner erblickte, der ihr aus dem Hause entgegenkam, da
    erinnerte sie sich erst, daß sie einen Brief und ein Telegramm abgesandt hatte.
    »Ist Antwort gekommen?« fragte sie.
    »Ich werde sofort nachsehen«, antwortete der Pförtner; er trat zu seinem Pult, warf einen Blick darauf, nahm ein
    in einem quadratischen, dünnen Umschlag steckendes Telegramm und übergab es ihr. »Ich kann nicht vor zehn Uhr
    zurückkommen. Wronski.« las sie.
    »Ist der Bote noch nicht zurück?«
    »Nein, noch nicht«, antwortete der Pförtner.
    ›Nun, wenn es so steht, dann weiß ich, was ich zu tun habe‹, sagte sie sich. Sie fühlte, wie in ihrer Seele ein
    unklarer Ingrimm aufstieg und ein Verlangen nach Rache rege wurde, und ging eilig hinauf. ›Ich werde selbst zu ihm
    fahren. Ehe ich für immer weggehe, will ich ihm alles sagen. Nie habe ich jemand so gehaßt wie diesen Menschen!‹
    dachte sie. Als sie seinen Hut am Kleiderhalter sah, zuckte sie vor Abscheu zusammen. Sie erwog nicht, daß sein
    Telegramm die Antwort auf das ihrige war und daß er ihren Brief noch nicht erhalten hatte. Ihre Einbildungskraft
    stellte ihn ihr vor Augen, wie er sich in diesem Augenblick mit seiner Mutter und mit der Prinzessin Sorokina ruhig
    unterhielt und sich über ihre Qualen freute. ›Ja, ich muß so schnell wie möglich wegfahren‹, sagte sie sich, wußte
    aber noch nicht, wohin. Es verlangte sie danach, recht schnell von den Empfindungen loszukommen, die sie in diesem
    furchtbaren Hause peinigten. Die Dienerschaft, die Wände, die Möbel in diesem Hause, alles rief in ihrer Seele ein
    Gefühl des Abscheus und des Ingrimms hervor und drohte, sie wie eine schwere Last zu ersticken.
    ›Ja, ich muß nach dem Bahnhof bei dem Gute seiner Mutter fahren, und wenn ich da weder ihn noch eine Antwort
    vorfinde, so fahre ich nach dem Gute selbst und ertappe ihn auf frischer Tat.‹ Anna sah in einer Zeitung den
    Fahrplan nach. ›Ab abends acht Uhr zwei Minuten. Ja, den erreiche ich noch.‹ Sie gab Befehl, andere Pferde
    anzuspannen, und packte, was sie für einige Tage an Sachen nötig hatte, in ihre Reisetasche. Sie sagte sich, daß
    sie hierher nicht wieder zurückkehren werde. Viele Pläne gingen ihr durch den Kopf; sie faßte den noch sehr
    unklaren, nebelhaften Entschluß, nach den auf dem Bahnhof oder auf dem Gute der Gräfin zu erwartenden Vorgängen
    womöglich auf der Nischegoroder Bahn bis zur nächsten Stadt zu fahren und dort zu bleiben.
    Das Abendessen stand auf dem Tisch; sie trat heran und roch an dem Brot und dem Käse; aber nachdem sie sich
    überzeugt hatte, daß der Geruch alles Eßbaren ihr

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