Anna Karenina
mich zu kennen. Und dabei kennt er
mich ebensowenig, wie mich sonst irgend jemand auf der Welt kennt. Kenne ich mich doch nicht einmal selbst. Ich
kenne nur mes appétits 1 , wie die Franzosen sagen.
Da, die Jungen da haben Appetit auf dieses unsaubere Fruchteis. Über diesen Wunsch sind sie mit sich im klaren‹,
dachte sie beim Anblick zweier Jungen, die einen Eisverkäufer anhielten; der Eisverkäufer nahm seinen Kübel vom
Kopfe und wischte sich mit einem Zipfel des Handtuchs den Schweiß vom Gesicht. ›Wir alle haben Appetit auf das, was
süß ist und wohlschmeckt. Und wenn es nicht Konfekt sein kann, so nimmt man mit unsauberem Fruchteis fürlieb. Und
so macht es Kitty auch: wenn nicht Wronski, dann Ljewin. Und sie beneidet mich. Und haßt mich. Und wir hassen uns
alle wechselseitig. Ich hasse Kitty, und Kitty haßt mich. Ja, das ist wahr. Tjutkin, coiffeur‹, las sie an einem
kleinen, schmierigen Geschäft. ›Je me fais coiffer par Tjutkin. 2 Das werde ich ihm sagen, wenn er nach Hause kommt‹, dachte sie und lächelte. Aber im
selben Augenblick fiel ihr ein, daß sie ja jetzt niemanden mehr habe, dem sie etwas Lächerliches mitteilen könne.
›Es gibt ja auch nichts Lächerliches und Lustiges. Alles ist ekelhaft. Da wird zur Vesper geläutet, und dieser
Kaufmann bekreuzt sich mit solcher Vorsicht, als ob er fürchtete, daß ihm dabei etwas hinfiele. Wozu sind diese
Kirchen da und dieses Glockengeläute und diese ganze Lüge? Nur um zu verdecken, daß wir uns alle wechselseitig
hassen, gerade wie diese Droschkenkutscher, die sich so wütend zanken. Jaschwin sagt: »Er will mich bis aufs Hemd
ausplündern, und ich ihn.« Ja, das ist wahr.‹
In diese Gedanken geriet sie so tief hinein, daß sie nicht einmal mehr an ihre Lage dachte und überrascht war,
als der Wagen vor ihrer Haustür hielt. Als sie den Pförtner erblickte, der ihr aus dem Hause entgegenkam, da
erinnerte sie sich erst, daß sie einen Brief und ein Telegramm abgesandt hatte.
»Ist Antwort gekommen?« fragte sie.
»Ich werde sofort nachsehen«, antwortete der Pförtner; er trat zu seinem Pult, warf einen Blick darauf, nahm ein
in einem quadratischen, dünnen Umschlag steckendes Telegramm und übergab es ihr. »Ich kann nicht vor zehn Uhr
zurückkommen. Wronski.« las sie.
»Ist der Bote noch nicht zurück?«
»Nein, noch nicht«, antwortete der Pförtner.
›Nun, wenn es so steht, dann weiß ich, was ich zu tun habe‹, sagte sie sich. Sie fühlte, wie in ihrer Seele ein
unklarer Ingrimm aufstieg und ein Verlangen nach Rache rege wurde, und ging eilig hinauf. ›Ich werde selbst zu ihm
fahren. Ehe ich für immer weggehe, will ich ihm alles sagen. Nie habe ich jemand so gehaßt wie diesen Menschen!‹
dachte sie. Als sie seinen Hut am Kleiderhalter sah, zuckte sie vor Abscheu zusammen. Sie erwog nicht, daß sein
Telegramm die Antwort auf das ihrige war und daß er ihren Brief noch nicht erhalten hatte. Ihre Einbildungskraft
stellte ihn ihr vor Augen, wie er sich in diesem Augenblick mit seiner Mutter und mit der Prinzessin Sorokina ruhig
unterhielt und sich über ihre Qualen freute. ›Ja, ich muß so schnell wie möglich wegfahren‹, sagte sie sich, wußte
aber noch nicht, wohin. Es verlangte sie danach, recht schnell von den Empfindungen loszukommen, die sie in diesem
furchtbaren Hause peinigten. Die Dienerschaft, die Wände, die Möbel in diesem Hause, alles rief in ihrer Seele ein
Gefühl des Abscheus und des Ingrimms hervor und drohte, sie wie eine schwere Last zu ersticken.
›Ja, ich muß nach dem Bahnhof bei dem Gute seiner Mutter fahren, und wenn ich da weder ihn noch eine Antwort
vorfinde, so fahre ich nach dem Gute selbst und ertappe ihn auf frischer Tat.‹ Anna sah in einer Zeitung den
Fahrplan nach. ›Ab abends acht Uhr zwei Minuten. Ja, den erreiche ich noch.‹ Sie gab Befehl, andere Pferde
anzuspannen, und packte, was sie für einige Tage an Sachen nötig hatte, in ihre Reisetasche. Sie sagte sich, daß
sie hierher nicht wieder zurückkehren werde. Viele Pläne gingen ihr durch den Kopf; sie faßte den noch sehr
unklaren, nebelhaften Entschluß, nach den auf dem Bahnhof oder auf dem Gute der Gräfin zu erwartenden Vorgängen
womöglich auf der Nischegoroder Bahn bis zur nächsten Stadt zu fahren und dort zu bleiben.
Das Abendessen stand auf dem Tisch; sie trat heran und roch an dem Brot und dem Käse; aber nachdem sie sich
überzeugt hatte, daß der Geruch alles Eßbaren ihr
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