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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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können. Was macht dein Kopf? Geht es besser?« fragte er in
    ruhigem Ton; den düsteren, feierlichen Ausdruck ihres Gesichts wollte er nicht sehen und nicht verstehen.
    Mitten im Zimmer stehend, blickte sie ihn stumm und unverwandt an. Er schaute nach ihr hin, machte für einen
    Augenblick ein finsteres Gesicht und fuhr dann fort, den Brief, den er erhalten hatte, zu lesen. Sie wandte sich um
    und ging langsam zur Tür. Noch konnte er sie zurückrufen; aber sie war schon bis zur Tür gelangt, und er schwieg
    immer noch, und es war nichts zu hören als das knisternde Geräusch beim Umwenden des Blattes.
    »Ja, was ich noch sagen wollte«, sagte er in dem Augenblick, als sie schon in der Tür war, »es ist doch
    endgültig, daß wir morgen reisen? Nicht wahr?«
    »Sie mögen wohl reisen, aber nicht ich«, erwiderte sie, sich ihm zuwendend.
    »Anna, so können wir nicht weiterleben ...«
    »Sie mögen wohl reisen, aber nicht ich«, sagte sie noch einmal.
    »Das wird unerträglich!«
    »Sie ... Sie werden es bereuen«, sagte sie und ging hinaus.
    Erschrocken über den Ausdruck von Verzweiflung, mit dem sie diese Worte gesprochen hatte, sprang er auf und
    wollte ihr nacheilen; aber er besann sich und setzte sich mit fest zusammengepreßten Zähnen und gerunzelter Stirn
    wieder hin. Diese, wie er fand, unpassende Drohung mit irgend etwas empörte ihn. ›Ich habe alles mögliche
    versucht‹, dachte er. ›Es bleibt nur noch ein Mittel übrig: sich nicht darum zu kümmern.‹ Darauf machte er sich
    fertig, um in die Stadt und noch einmal zu seiner Mutter zu fahren, von der er sich noch die Unterschrift unter die
    Kreditbriefe geben lassen mußte.
    Sie hörte den Schall seiner Schritte in seinem Arbeitszimmer und im Eßzimmer. An der Tür des Besuchszimmers
    blieb er stehen. Aber er kam nicht zu ihr zurück, sondern gab nur Befehl, den Hengst in seiner Abwesenheit Woitow
    zu übergeben. Dann hörte sie, wie der Wagen vorfuhr, wie die Haustür geöffnet wurde und er hinausging. Aber da kam
    er wieder in den Flur zurück, und es lief jemand die Treppe hinauf. Es war der Kammerdiener, der die vergessenen
    Handschuhe holte. Sie trat ans Fenster und sah, wie er ohne hinzublicken die Handschuhe nahm, den Kutscher am
    Rücken berührte und ihm etwas sagte. Dann setzte er sich, ohne einen Blick nach den Fenstern zu werfen, in seiner
    gewöhnlichen Haltung, das eine Bein über das andere geschlagen, im Wagen zurecht und verschwand, mit dem Anziehen
    des einen Handschuhs beschäftigt, hinter der nächsten Straßenecke.

27
    ›Er ist weggefahren! Es ist alles aus!‹ sagte sich Anna, die am Fenster stand, und infolge einer eigenartigen
    Gedankenverbindung flossen mit diesem jähen Schmerz die Erinnerung an die Finsternis nach dem Erlöschen der Kerze
    und der Gedanke an den furchtbaren Traum in eins zusammen, und ihr Herz wurde von kaltem Entsetzen erfüllt.
    »Nein, das kann nicht sein!« schrie sie auf, schritt hastig durch das Zimmer und klingelte stark. Es war ihr
    jetzt ein so ängstliches Gefühl, allein zu sein, daß sie, ohne das Herbeikommen des Dieners abzuwarten, ihm
    entgegenging.
    »Erkundigen Sie sich, wohin der Graf gefahren ist«, sagte sie.
    Der Diener antwortete, der Herr Graf sei nach den Ställen gefahren.
    »Der Herr Graf hat befohlen zu melden, der Wagen werde sofort zurückkommen, für den Fall, daß es der gnädigen
    Frau gefällig wäre auszufahren.«
    »Gut. Warten Sie. Ich will sofort ein paar Zeilen schreiben. Schicken Sie Michail damit nach den Ställen. So
    schnell wie möglich.«
    Sie setzte sich hin und schrieb:
    »Ich bin an allem schuld. Komm nach Hause; wir müssen uns miteinander aussprechen. Um Gottes willen, komm; ich
    ängstige mich.«
    Sie steckte das Blatt in einen Umschlag, verschloß ihn und gab ihn dem Diener.
    Sie hatte jetzt Furcht vor dem Alleinsein und verließ unmittelbar nach dem Diener das Zimmer und ging in die
    Kinderstube.
    ›Was ist das? Das ist ja eine Verwechslung, das ist nicht er! Wo sind seine blauen Augen, sein hübsches,
    schüchternes Lächeln?‹ war ihr erster Gedanke, als sie statt Sergeis, den sie bei ihrer Gedankenverwirrung in der
    Kinderstube zu erblicken erwartet hatte, ihr dickes, rotbackiges Töchterchen mit dem schwarzen, krausen Haar vor
    sich sah. Die Kleine saß am Tisch, klopfte ausdauernd und kräftig mit einem Glasstöpsel auf ihm herum und sah die
    Mutter mit ihren dunklen Augen, die an schwarze Johannisbeeren erinnerten, gedankenlos an. Anna

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