Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Torheit! Sie nährt selbst, und das geht nicht recht vonstatten, und da habe ich ihr geraten ... Sie wird
    sich sehr freuen. Sie kommt sofort«, brachte Dolly in ungeschickter Weise heraus, da sie sich nicht darauf
    verstand, die Unwahrheit zu sagen. »Da ist sie ja schon.«
    Als Kitty gehört hatte, daß Anna gekommen sei, hatte sie nicht zu ihr hereinkommen wollen; aber Dolly hatte sie
    doch dazu überredet. Sich zusammennehmend, kam Kitty herein, ging errötend auf Anna zu und reichte ihr die
    Hand.
    »Ich freue mich sehr«, sagte sie mit zitternder Stimme.
    Kitty war verlegen infolge des Kampfes, der in ihrer Seele zwischen der feindseligen Gesinnung gegen diese
    schlechte Frau und dem Wunsche, gegen sie Nachsicht zu üben, vorging; aber sobald sie Annas schönes, anziehendes
    Gesicht erblickte, war sofort alle Feindschaft verschwunden.
    »Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn Sie gewünscht hätten, mit mir nicht zusammenzutreffen. Ich bin an
    all dergleichen gewöhnt. Sie sind krank gewesen? Ja, Sie sehen recht verändert aus«, sagte Anna.
    Kitty fühlte, daß Annas auf sie gerichteter Blick etwas Feindseliges hatte. Sie erklärte sich diese
    Feindseligkeit durch die peinliche Lage, in der sich Anna, von der sie selbst früher Beistand angenommen hatte, ihr
    gegenüber jetzt befand, und empfand inniges Mitleid mit ihr.
    Sie sprachen über Kittys Krankheit, über Kittys Kind, über Stiwa; aber Anna interessierte sich offenbar für das
    alles nicht.
    »Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen«, sagte sie, indem sie aufstand.
    »Wann reist ihr denn?«
    Aber Anna gab wieder keine Antwort, sondern wandte sich zu Kitty.
    »Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte sie lächelnd.
    »Ich habe soviel über Sie von allen Seiten gehört, sogar aus dem Munde Ihres Mannes. Er hat mir einen Besuch
    gemacht und mir sehr gut gefallen«, fügte sie, offenbar in böser Absicht, hinzu. »Wo ist er denn jetzt?«
    »Er ist aufs Land gefahren«, antwortete Kitty errötend.
    »Grüßen Sie ihn von mir; bitte, vergessen Sie es nicht.«
    »Ich werde es bestimmt nicht vergessen«, erwiderte Kitty harmlos und blickte ihr voll Mitleid in die Augen.
    »Also dann leb wohl, Dolly!« Anna küßte Dolly, drückte Kitty die Hand und ging rasch hinaus.
    »Sie ist immer noch dieselbe und immer noch ebenso anziehend. Eine sehr schöne Frau!« sagte Kitty, als sie mit
    ihrer Schwester wieder allein war. »Aber es ist etwas Mitleiderregendes an ihr, etwas entsetzlich
    Mitleiderregendes.«
    »Ja, heute war sie ganz eigentümlich«, versetzte Dolly. »Als ich sie ins Vorzimmer hinausbegleitete, kam es mir
    vor, wie wenn sie losweinen wollte.«

29
    Anna setzte sich nach diesem Besuche in schlimmerem Seelenzustande in den Wagen als beim Wegfahren von zu Hause.
    Zu ihren früheren Qualen war jetzt noch das Gefühl gekommen, das sie bei der Begegnung mit Kitty deutlich empfunden
    hatte: daß sie auch von dieser verachtet und verschmäht werde.
    »Wohin befehlen Sie? Nach Hause?« fragte Peter.
    »Ja, nach Hause«, antwortete sie mechanisch, ohne jetzt überhaupt daran zu denken, wohin sie fuhr.
    ›Wie Dolly und Kitty mich angesehen haben, wie etwas Schreckliches, Unbegreifliches, Staunenerregendes. Was kann
    denn der dem andern so eifrig zu schildern haben?‹ dachte sie beim Anblick zweier Fußgänger. ›Kann man denn einem
    andern schildern, was man empfindet? Ich wollte Dolly alles auseinandersetzen; nur gut, daß ich es nicht getan
    habe. Wie sie sich über mein Unglück gefreut haben würde! Sie würde das ja nicht gezeigt haben; aber ihr
    hauptsächliches Gefühl wäre doch Freude darüber gewesen, daß ich nun meine Strafe hätte für die Genüsse, um die sie
    mich beneidet hat. Und Kitty, die würde sich noch mehr gefreut haben. Diese Kitty durchschaue ich ganz und gar! Sie
    weiß, daß ich gegen ihren Mann ungewöhnlich liebenswürdig gewesen bin. Und da ist sie nun eifersüchtig und haßt
    mich. Auch verachtet sie mich. In ihren Augen bin ich ein sittenloses Weib. Wäre ich ein sittenloses Weib, ich
    hätte ihren Mann in mich verliebt machen können, wenn ich es gewollt hätte. Und ein wenig habe ich es ja auch
    gewollt. Da, der ist mit sich zufrieden‹, dachte sie über einen dicken, rotbackigen Herrn, der ihr, in einem Wagen
    sitzend, begegnete; er hielt sie für eine ihm bekannte Dame, nahm den glänzenden Hut von dem kahlen, glänzenden
    Schädel und kam dann zu der Erkenntnis, daß er sich geirrt hatte. ›Er glaubte

Weitere Kostenlose Bücher