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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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antwortete der
    Engländerin auf deren Frage, sie fühle sich ganz wohl und werde morgen aufs Land fahren, setzte sich zu der Kleinen
    und ließ den Stöpsel vor ihr umherkreiseln. Aber das laute, helle Lachen des Kindes und die Art, wie es dabei die
    Augenbrauen bewegte, erinnerten sie so lebhaft an Wronski, daß sie, ein aufsteigendes Schluchzen gewaltsam
    zurückhaltend, aufstand und hinausging. ›Ist wirklich alles zu Ende? Nein, es ist nicht möglich!‹ dachte sie. ›Er
    wird zurückkommen. Aber welche Erklärung wird er mir für dieses Lächeln geben und für diese eigentümliche
    Lebhaftigkeit, nachdem er mit ihr gesprochen hatte? Aber wenn er mir auch keine Erklärung dafür gibt, so will ich
    ihm doch vertrauen. Wenn ich ihm nicht mehr vertraue, dann bleibt mir nur eines übrig ... und das will ich
    nicht.‹
    Sie sah nach der Uhr. Es waren zwölf Minuten vergangen. ›Jetzt hat er schon meinen Brief erhalten und kommt
    zurück. Es kann nicht mehr lange dauern, noch zehn Minuten ... Aber wie, wenn er nicht kommt? Nein, das ist nicht
    möglich. Er darf mich nicht mit verweinten Augen sehen. Ich will gehen und sie mir waschen. Ja, ja, habe ich mir
    denn schon das Haar gemacht oder nicht?‹ fragte sie sich, konnte sich aber nicht erinnern. Sie befühlte ihren Kopf
    mit der Hand. ›Ja, ich bin gekämmt; aber wann es geschehen ist, darauf kann ich mich wirklich nicht besinnen.‹ Sie
    traute sogar ihrer Hand nicht und trat vor den Spiegel, um zu sehen, ob sie wirklich gekämmt sei oder nicht. Sie
    war gekämmt und hatte keine Erinnerung daran, wann sie es getan habe. ›Wer ist das?‹ dachte sie, als sie im Spiegel
    ein gerötetes Gesicht mit seltsam glänzenden Augen erblickte, die sie erschrocken ansahen. ›Ach, das bin ich‹,
    sagte sie zu sich, plötzlich zu Verstand kommend; sie betrachtete im Spiegel ihre ganze Gestalt und fühlte auf
    einmal an sich seine Küsse und machte zusammenzuckend eine Bewegung mit den Schultern. Dann hob sie die Hand an die
    Lippen und küßte sie.
    ›Was ist das? Ich werde wahnsinnig‹, dachte sie und ging ins Schlafzimmer, wo Annuschka mit dem Aufräumen
    beschäftigt war.
    »Annuschka«, sagte sie, indem sie vor ihr stehenblieb und sie ansah, ohne selbst zu wissen, was sie eigentlich
    zu ihr sagen wollte.
    »Sie wollten zu Darja Alexandrowna fahren«, sagte Annuschka, die zu verstehen schien, was in der Seele ihrer
    Herrin vorging.
    »Zu Darja Alexandrowna? Ja, da will ich hinfahren.«
    ›Fünfzehn Minuten hin, fünfzehn zurück. Er ist schon auf dem Rückwege, er wird gleich hier sein.‹ Sie zog ihre
    Uhr heraus und blickte auf das Zifferblatt. ›Aber wie hat er überhaupt wegfahren können, obgleich er doch sah, in
    welchem Zustand er mich zurückließ? Wie kann er es ertragen zu leben, ohne sich mit mir versöhnt zu haben?‹ Sie
    trat ans Fenster und sah auf die Straße. Der Zeit nach konnte er schon zurück sein. Aber ihre Berechnung war
    vielleicht unrichtig, und so begann sie denn aufs neue, aus der Erinnerung festzustellen, wann er weggefahren war,
    und die Minuten zusammenzuzählen.
    Während sie vom Fenster weg zu der großen Uhr ging, um die ihrige mit ihr zu vergleichen, fuhr ein Wagen vor.
    Sie sah aus dem Fenster und erblickte Wronskis Kutsche. Aber es kam niemand die Treppe herauf, und unten hörte sie
    Stimmen. Es war der Bote, den sie abgeschickt hatte, und der nun in dem Wagen zurückgekommen war. Sie ging zu ihm
    hinunter.
    »Ich habe den Herrn Grafen nicht mehr angetroffen. Der Herr Graf war nach dem Nischegoroder Bahnhof
    gefahren.«
    »Was willst du noch? Was hast du da?« fragte sie den lustigen, rotbackigen Michail, der ihr ihren Brief wieder
    zurückgab.
    ›Ach ja, er hat ihn ja nicht bekommen‹, fiel ihr ein.
    »Fahre mit diesem Briefe zu der Gräfin Wronskaja nach ihrem Landgute, du weißt es ja wohl? Und bringe mir sofort
    Antwort«, sagte sie zu dem Boten.
    ›Und ich? Was werde ich selbst unterdessen tun?‹ überlegte sie. ›Ja, ich will zu Dolly fahren, das ist wahr;
    sonst werde ich noch wahnsinnig. Ich kann ja auch noch an ihn telegrafieren.‹ Und sie schrieb ein Telegramm:
    »Ich muß Sie notwendig sprechen; kommen Sie sogleich.«
    Nachdem sie es abgesandt hatte, ging sie in ihr Zimmer, um sich anzukleiden. Als sie fertig war und den Hut auf
    dem Kopfe hatte, blickte sie noch einmal der braven, ruhigen Annuschka in die Augen (sie hatte sich vor einiger
    Zeit verheiratet und nun vollere Körperformen bekommen). Unverkennbares

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