Anna Karenina
dem
Gepäckwagen, Lärm, Rufen und Lachen. Daß kein Mensch irgendwelchen Anlaß habe sich zu freuen, darüber war sich Anna
so klar, daß dieses Lachen in schmerzhafter Weise ihre Nerven reizte und sie sich am liebsten die Ohren zugestopft
hätte, um es nicht zu hören. Endlich ertönte das dritte Glockenzeichen, die Lokomotive pfiff und schnaufte, die
Ketten zwischen den Wagen zogen sich unter Gerassel straff, und der Ehemann in Annas Abteil bekreuzte sich. ›Es
wäre interessant, ihn zu fragen, was er sich eigentlich dabei denkt‹, dachte Anna und warf ihm einen zornigen Blick
zu. Dann blickte sie an der Dame vorüber durch das Fenster nach den Menschen, die Abreisenden das Geleite gegeben
hatten und nun, auf dem Bahnsteig stehend, rückwärts zu gleiten schienen. Taktmäßig an den Fugen der Schienen
anstoßend, rollte der Wagen, in dem Anna saß, am Bahnsteig vorüber, an einer Steinwand, an der Signalscheibe und an
anderen Wagen; nun rollten die Räder glatter und sanfter mit leisem Klang auf den Schienen dahin; das Fenster
erglänzte im hellen Schein der Abendsonne, und ein leiser Wind spielte mit dem Vorhang. Anna vergaß ganz ihre
Nachbarn im Abteil, und indem sie begierig die frische Luft einsog, überließ sie sich bei dem leisen Schaukeln, das
durch die Fahrt hervorgerufen wurde, wieder ihren Gedanken.
›Ja, wobei war ich doch stehengeblieben? Dabei, daß ich mir keine Lage aussinnen kann, in der das Leben nicht
eine Qual wäre, und daß wir alle dazu geschaffen sind, um Qualen zu erleiden, und daß wir das alle wissen und alle
uns Mittel erdenken, um uns selbst zu betrügen. Sobald man aber die Wahrheit erkennt, was bleibt einem dann zu tun
übrig?‹
»Dazu ist dem Menschen die Vernunft gegeben, damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt«, sagte die Dame
auf französisch; sie war mit dieser leeren Redensart offenbar sehr zufrieden und fuhr sich mit der Zunge über die
Lippen.
Diese Worte bildeten beinahe eine Antwort auf Annas Gedanken.
›Damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt‹, wiederholte Anna bei sich. Sie sah den rotbackigen Gatten
und seine hagere Frau an und sagte sich, daß die kränkliche Gattin sich gewiß für eine unverstandene Frau halte und
der Mann sie hintergehe und sie dadurch in ihrer Selbstbeurteilung bestärke. Anna meinte, die ganze
Lebensgeschichte der beiden und alle Winkel ihrer Seelen deutlich vor sich zu sehen, indem sie gleichsam einen
hellen Lichtstrahl darauf richtete. Aber bemerkenswert war dabei eigentlich nichts, und so fuhr sie denn in ihrem
Gedankengange fort.
›Ja, ich fühle eine große Beunruhigung, und dazu ist uns die Vernunft gegeben, damit wir uns davon frei machen;
folglich muß ich das eben tun. Warum soll man denn eine Kerze nicht auslöschen, wenn doch nichts mehr da ist, was
man sehen möchte, und man sich ekelt, alles das, was man um sich hat, weiter anzusehen? Und wie ekelhaft ist alles!
Weshalb ist dieser Schaffner auf dem Trittbrett entlanggelaufen? Weshalb schreien diese jungen Leute da im anderen
Wagen? Weshalb reden sie, weshalb lachen sie? Alles ist Unwahrhaftigkeit, alles ist Betrug, alles ist
Schlechtigkeit ...‹
Als der Zug die Station erreicht hatte, stieg Anna mit einem Schwarm anderer Fahrgäste aus, sonderte sich aber
dann von ihnen ab, als ob es Aussätzige wären, und blieb in einiger Entfernung von ihnen auf dem Bahnsteig stehen.
Sie suchte sich zu erinnern, warum sie hierhergefahren sei und was sie zu tun beabsichtigt habe. Es wurde ihr so
schwer, alles das, was ihr vorher als möglich erschienen war, sich jetzt zurechtzulegen, namentlich da der lärmende
Haufen aller dieser gräßlichen Menschen sie nicht in Ruhe ließ. Bald kamen Gepäckträger zu ihr hingelaufen, um ihr
ihre Dienste anzubieten; bald belästigten junge Leute, die, in lauter Unterhaltung begriffen, mit ihren Absätzen
auf den Bohlen des Bahnsteigs umherpolterten, sie mit ihren Blicken; bald wichen Begegnende ihr nicht nach der
richtigen Seite aus. Als ihr einfiel, daß sie nach dem Landgute hatte weiterfahren wollen, wenn keine Antwort da
wäre, hielt sie einen Gepäckträger an und fragte ihn, ob nicht ihr Kutscher da sei, der dem Grafen Wronski einen
Brief habe bringen sollen.
»Graf Wronski? Vom Grafen Wronski habe ich in diesem Augenblick einen Wagen gesehen, der die Fürstin Sorokina
und ihre Tochter abholen sollte. Wie sieht denn der Kutscher aus?«
Während sie noch mit dem Gepäckträger
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