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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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»Herrgott, vergib mir alles!« murmelte
    sie, da sie fühlte, daß ein Widerstand unmöglich sei. Das Männchen wirtschaftete mit dem Eisenwerk herum und redete
    dabei etwas vor sich hin. Und die Kerze, bei der sie das von soviel Sorgen, Betrug, Kummer und Schlechtigkeit
    erfüllte Buch des Lebens gelesen hatte, leuchtete in hellerem Scheine auf als je, erhellte ihr alles, was bisher
    für sie in Finsternis verborgen gewesen war, knisterte, wurde dunkel und erlosch für immer.

1
    Fast zwei Monate waren vergangen. Schon war die Mitte dieses heißen Sommers herangekommen, und erst jetzt
    schickte sich Sergei Iwanowitsch an, Moskau zu verlassen.
    In Sergei Iwanowitschs Lebensgang hatten sich während dieser Zeit wichtige Ereignisse zugetragen. Schon vor
    einem Jahre hatte er sein Buch, die Frucht sechsjähriger Arbeit, zum Abschluß gebracht; es führte den Titel:
    Versuch einer Übersicht der Grundgedanken und Formen des Staatswesens in Europa und in Rußland. Einige Abschnitte
    dieses Buches und die Einleitung waren schon vorher in Zeitschriften gedruckt worden, und andere Teile hatte Sergei
    Iwanowitsch Männern seines Bekanntenkreises vorgelesen, so daß die in diesem Werke enthaltenen Ideen dem
    Lesepublikum nicht mehr etwas völlig Neues sein konnten; aber dennoch hatte Sergei Iwanowitsch erwartet, daß das
    Erscheinen seines Buches bei den Gebildeten ein gewisses Aufsehen erregen und wenn auch nicht eine Umwälzung in der
    Wissenschaft, so doch auf jeden Fall starke Beachtung in der Gelehrtenwelt hervorrufen werde.
    Das Buch war, nachdem es mit größter Sorgfalt die letzte Feile erhalten hatte, im vorigen Jahre erschienen und
    an die Buchhändler versandt worden.
    Sergei Iwanowitsch fragte zwar niemanden nach seinem Buch, beantwortete Fragen seiner Freunde nach dessen Absatz
    nur ungern und mit erheuchelter Gleichgültigkeit und erkundigte sich nicht einmal bei den Buchhändlern danach, ob
    es viel gekauft werde; aber dennoch wartete er mit scharfem Blick und gespannter Aufmerksamkeit auf den ersten
    Eindruck, den sein Buch in der gebildeten Gesellschaft und in der Presse hervorbringen werde.
    Aber es verging eine Woche, eine zweite, eine dritte, und es war keinerlei Eindruck in der Gesellschaft
    wahrzunehmen. Mit ihm befreundete Fachmänner und Gelehrte fingen manchmal an, offenbar aus Höflichkeit, von dem
    Buch zu reden; seine sonstigen Bekannten dagegen, die sich mit Büchern gelehrten Inhalts nicht beschäftigten,
    sprachen überhaupt nicht davon; und in der Gesellschaft, die besonders in jener Zeit mit ganz anderen Dingen zu tun
    hatte, zeigte sich äußerste Gleichgültigkeit. Auch in der Presse war einen ganzen Monat lang von dem Buche nicht
    mit einer Silbe die Rede gewesen.
    Sergei Iwanowitsch berechnete genau die Zeit, die nach seiner Ansicht zur Abfassung einer Besprechung
    erforderlich war; aber es verging nach dem ersten noch ein zweiter Monat, und immer noch dauerte das Stillschweigen
    fort.
    Nur in der »Nordischen Biene« waren in einem humoristischen Aufsatz über den Sänger Drabanti, der seine Stimme
    verloren hatte, gelegentlich ein paar geringschätzige Bemerkungen über Kosnüschews Buch gebracht worden, die darauf
    hindeuteten, daß alle schon längst über dieses Buch den Stab gebrochen hätten und es allgemeinem Gelächter
    verfallen sei.
    Endlich im dritten Monat erschien in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine Besprechung. Sergei Iwanowitsch
    kannte auch den betreffenden Rezensenten; er hatte ihn einmal bei Golubzow getroffen.
    Der Rezensent war ein sehr junger, kränklicher Literat, recht gewandt mit der Feder, aber nur sehr mangelhaft
    gebildet und im persönlichen Verkehr linkisch.
    Obwohl Sergei Iwanowitsch ihn außerordentlich gering einschätzte, machte er sich doch voller Achtung vor der
    Besprechung daran, sie zu lesen. Sie war geradezu entsetzlich.
    Offenbar hatte der junge Literat das ganze Buch in einer Weise aufgefaßt, in der es nicht aufgefaßt werden
    konnte und durfte. Aber er hatte die daraus angeführten Teile so geschickt zusammengestellt, daß es allen, die es
    nicht gelesen hatten (und augenscheinlich hatte es so gut wie niemand gelesen), völlig klar sein mußte, daß dieses
    ganze Buch nichts anderes war als eine Sammlung hochtönender leerer Worte, und noch dazu mißbräuchlich verwendeter
    (worauf die beigesetzten Fragezeichen hinwiesen) und daß dem Verfasser alles tiefere Wissen völlig abging. Und
    alles das war so scharfsinnig ausgeführt, daß

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