Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
welchem Zweck, und vermochte nur mit Anstrengung die
    Frage zu verstehen.
    »Ja«, antwortete sie und reichte ihm ihr Geldtäschchen; dann nahm sie ihre kleine rote Reisetasche und stieg aus
    dem Wagen.
    Während sie sich durch den Menschenschwarm hindurch nach dem Wartesaal erster Klasse begab, erinnerte sie sich
    nach und nach wieder an alle Einzelheiten ihrer Lage und an die Pläne, zwischen denen sie geschwankt hatte. Und
    wiederum wechselten in ihrem gequälten, entsetzlich zuckenden Herzen Hoffnung und Verzweiflung, und die alten,
    schmerzhaften Wunden wurden immer von neuem gereizt. Während sie in Erwartung des Zuges auf dem sternförmigen Sofa
    saß und die Ein- und Ausgehenden voll Widerwillen betrachtete (sie erschienen ihr alle abstoßend), dachte sie bald
    daran, wie sie auf dem Bahnhof ankommen, wie sie ihm ein paar Zeilen schreiben und was sie ihm schreiben werde,
    bald daran, wie er sich jetzt bei seiner Mutter über seine Lage beklage (er, der doch gar nicht wußte, was leiden
    heißt), und wie sie dann ins Zimmer treten und was sie ihm sagen werde. Bald wieder dachte sie daran, wie glücklich
    ihr Leben sich noch gestalten könne, und wie qualvoll sie ihn liebe und hasse, und wie furchtbar ihr Herz
    poche.
Fußnoten
    1 (engl.) Der Eifer ist erloschen.

31
    Das erste Glockenzeichen ertönte. Einige junge Männer gingen vorüber, häßliche, freche Gesellen; sie hatten es
    eilig, achteten dabei aber doch darauf, welchen Eindruck sie wohl machten. Auch Peter, mit stumpfem, tierischem
    Gesichtsausdruck, kam in seiner Livree und seinen Gamaschen durch den Saal herbei und trat zu ihr, um sie zum Wagen
    zu geleiten. Die lärmenden jungen Männer wurden still, als sie auf dem Bahnsteig an ihnen vorüberging, und der eine
    flüsterte einem andern eine Bemerkung über sie zu, natürlich eine abscheuliche Bemerkung. Sie stieg am Wagen die
    hohe Stufe hinauf und setzte sich in einem Abteil allein auf das mit Sprungfedern versehene, beschmutzte, ehemals
    weiß gewesene Sofa. Die Reisetasche, die zuerst auf den Sprungfedern hin und her gezittert hatte, legte sich zur
    Seite. Peter mit seinem dummen Lächeln lüftete vor dem Fenster zum Zeichen des Abschieds seinen betreßten Hut; der
    freche Schaffner schlug die Tür zu und schloß die Klinke. Eine häßliche Dame mit einer Turnüre (Anna entkleidete
    dieses Weib in Gedanken und entsetzte sich über ihre schlechte Gestalt) und ein paar junge Mädchen, die geziert
    lachten, gingen unten schnell vorüber.
    »Er ist bei Katerina Andrejewna; er ist immerzu bei ihr, ma tante!« rief das eine der jungen Mädchen.
    ›So ein junges Ding, und auch schon so verdorben und so kokett‹, dachte Anna. Um nur niemand zu sehen, stand sie
    schnell auf und setzte sich in dem leeren Abteil an das gegenüberliegende Fenster. Ein häßlicher Arbeitsmann in
    schmutzigem Rock, mit einer Dienstmütze, unter der das wirre Haar heraushing, ging an dem Fenster, an dem sie saß,
    vorüber und bückte sich zu den Rädern des Wagens hinunter. ›Dieser garstige Arbeiter hat irgend etwas Bekanntes an
    sich‹, dachte Anna. Da fiel ihr ihr Traum ein, und zitternd vor Angst ging sie vom Fenster weg nach der
    gegenüberliegenden Tür. Der Schaffner öffnete die Tür in diesem Augenblick und ließ einen Herrn mit seiner Frau
    herein.
    »Wünschen Sie auszusteigen?«
    Anna antwortete nicht. Der Schaffner und die beiden eingestiegenen Reisenden bemerkten unter dem Schleier nicht
    den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht. Sie kehrte in ihre Ecke zurück und setzte sich wieder. Das Ehepaar
    nahm ihr gegenüber Platz und musterte aufmerksam, aber verstohlen Annas Kleidung. Beide, der Mann wie die Frau,
    machten auf Anna einen widerwärtigen Eindruck. Der Mann fragte, ob sie ihm erlaube zu rauchen, augenscheinlich
    nicht sosehr in der Absicht zu rauchen, wie um eine Unterhaltung anzuknüpfen. Als er ihre Erlaubnis er halten
    hatte, begann er mit seiner Frau auf französisch ein inhaltlich so ödes Gespräch, daß Anna dadurch mehr belästigt
    wurde als durch das Rauchen. Sie redeten in gezierter Weise lauter Dummheiten, nur damit sie es hören sollte. Anna
    erkannte deutlich, wie diese beiden Gatten bereits einer des andern überdrüssig geworden waren und wie sie sich
    wechselseitig haßten. Auch war es ja gar nicht anders möglich, als daß man so klägliche Geschöpfe haßte.
    Das zweite Glockenzeichen wurde gegeben, und gleich darauf hörte man das Vorbeifahren des Gepäcks nach

Weitere Kostenlose Bücher