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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sprach, trat der rotbackige, lustige Kutscher Michail in seiner
    dunkelblauen, vornehmen Jacke mit der Uhrkette an sie heran und übergab ihr einen Brief, offenbar stolz darauf,
    ihren Auftrag so gut ausgeführt zu haben. Sie öffnete den Brief, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, noch
    ehe sie ihn gelesen hatte.
    »Es tut mir sehr leid, daß der Brief mich nicht mehr in Moskau erreicht hat. Ich werde um zehn Uhr zu Hause
    sein«, schrieb Wronski mit flüchtiger Schrift.
    »Nun ja! Das hatte ich erwartet!« sagte sie zu sich selbst mit einem bösen Lächeln.
    »Es ist gut. Fahr nur nach Hause«, sagte sie mit leiser Stimme zu Michail. Sie sprach leise, weil das schnelle
    Klopfen des Herzens sie am Atmen hinderte. ›Nein, ich werde mich nicht von dir quälen lassen‹, dachte sie, wandte
    sich aber mit diesen drohenden Worten nicht an Wronski, auch nicht an sich selbst, sondern an den, der ihr
    beschieden hatte, sich zu quälen, und ging auf dem Bahnsteig am Stationsgebäude entlang.
    Zwei Dienstmädchen, die auf dem Bahnsteig auf und ab gingen, drehten die Köpfe nach ihr um, betrachteten sie und
    machten laute Bemerkungen über ihre Kleidung. »Die sind echt«, sagten sie über die Spitzen, die Anna trug. Jene
    jungen Männer ließen sie auch hier nicht in Ruhe; sie gingen wieder an ihr vorüber, sahen ihr ins Gesicht und
    schwatzten unter Lachen in gekünstelter Sprache. Der Bahnhofsvorsteher fragte sie im Vorbeigehen, ob sie mitfahren
    wolle. Ein Knabe, der Kwaß verkaufte, verwandte kein Auge von ihr. ›Mein Gott, wo soll ich hin?‹ dachte sie,
    während sie auf dem Bahnsteig immer weiter und weiter ging. An seinem Ende blieb sie stehen. Ein paar Damen und
    Kinder, die einen Herrn mit Brille abgeholt hatten und dort laut lachten und sprachen, sahen sie, als sie in ihre
    Nähe gekommen war, neugierig an und verstummten. Mit beschleunigtem Schritt ging sie von ihnen weg an den vorderen
    Rand des Bahnsteigs. Ein Güterzug kam heran. Die Bohlen des Bahnsteigs zitterten, und sie hatte die Empfindung, als
    fahre sie wieder.
    Auf einmal kam ihr der Mann ins Gedächtnis, der an dem Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronski überfahren worden
    war, und nun wußte sie, was sie zu tun hatte. Mit schnellen, leichten Schritten stieg sie die Stufen hinab, die von
    der Wasserstelle zu den Schienen führten, und blieb neben dem dicht an ihr vorüberfahrenden Zuge stehen. Sie
    blickte nach dem unteren Teile der Wagen, nach den Schrauben, den Ketten und den hohen, gußeisernen Rädern des
    langsam dahinrollenden ersten Wagens und suchte nach dem Augenmaß die Sekunde abzupassen, wo der Zwischenraum
    zwischen den Vorder- und den Hinterrädern gerade vor ihr sein werde.
    ›Dorthin!‹ sagte sie zu sich selbst, indem sie in den Schatten blickte, den der Wagen warf, und ihre Augen auf
    den mit Kohlen vermischten Sand richtete, mit dem die Schwellen bedeckt waren. ›Dorthin, gerade in den
    Zwischenraum; so werde ich ihn bestrafen und mich von allen und von mir selbst befreien.‹
    Sie wollte sich unter den ersten Wagen werfen, dessen Mitte in diesem Augenblick gerade an ihr vorüberkam; aber
    die rote Reisetasche, die sie vom Arm nehmen wollte, hielt sie auf, und es war schon zu spät: der Zwischenraum
    zwischen den Rädern war bereits an ihr vorüber. Sie mußte auf den folgenden Wagen warten. Es überkam sie ein
    ähnliches Gefühl, wie wenn sie sich beim Baden anschickte, ins Wasser hineinzugehen, und sie bekreuzte sich. Die
    gewohnte Bewegung bei der Ausführung des Kreuzzeichens rief in ihrer Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus
    ihrer Mädchen- und Kinderzeit wach, und plötzlich zerriß die Finsternis, die ihr bisher alles verborgen hatte, und
    ihr vergangenes Leben stand einen Augenblick lang mit allen seinen hellschimmernden Freuden vor ihrem geistigen
    Blicke. Aber sie wandte die Augen nicht von den Rädern des herankommenden zweiten Wagens. Und genau in dem
    Augenblick, wo der Raum zwischen den Rädern ihr gegenüber war, warf sie die rote Reisetasche von sich, drückte den
    Kopf zwischen die Schultern, ließ sich unter den Wagen auf die Hände fallen und kniete mit einer leichten Bewegung,
    als ob sie vorhätte, sogleich wieder aufzustehen, nieder. Aber im gleichen Augenblick erschrak sie über das, was
    sie tat. ›Wo bin ich? Was tue ich? Weshalb?‹ Sie wollte sich erheben, sich zurückwerfen; aber etwas Gewaltiges,
    Unerbittliches stieß gegen ihren Kopf und schleppte sie am Rücken mit fort.

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