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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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zuwider sei, ließ sie den Wagen vorfahren und ging hinaus. Das
    Haus warf seinen Schatten schon über die ganze Straße; es war ein klarer und in der Sonne noch warmer Abend. Sowohl
    Annuschka, die mit ihr hinausging und die Sachen trug, wie auch Peter, der die Sachen in den Wagen legte, und auch
    der augenscheinlich unzufriedene Kutscher, alle waren sie ihr widerwärtig und versetzten sie durch ihre Worte und
    Bewegungen in Erregung.
    »Ich brauche dich nicht, Peter.«
    »Soll ich nicht die Fahrkarte besorgen?«
    »Nun, wie du willst; mir ganz gleich«, erwiderte sie ärgerlich.
    Peter sprang auf den Bock, stemmte die Hände in die Seiten und wies den Kutscher an, nach dem Bahnhof zu
    fahren.
Fußnoten
    1 (frz.) meine Neigungen, Gelüste.
    2 (frz.) Tjutkin, Friseur, las sie ... Ich
    lasse mich von Tjutkin frisieren.

30
    ›Ja, da bin ich wieder im Wagen! Jetzt verstehe ich wieder alles!‹ sagte Anna zu sich, sobald der Wagen sich in
    Bewegung gesetzt hatte und schaukelnd über die kleinen Steine des Straßenpflasters dahinrasselte. Und wieder
    begannen allerlei Eindrücke sich in ihrem Geiste abzulösen.
    ›Ja, ich dachte doch zuletzt noch an etwas Hübsches; was war das nur?‹ fragte sie sich und gab sich Mühe, sich
    zu erinnern. ›Tjutkin, coiffeur? Nein, das war es nicht. Ach ja, ich dachte an das, was Jaschwin sagte: »Der Kampf
    ums Dasein und der Haß, das ist das einzige, was die Menschen miteinander verbindet.« Ach, es ist ganz zwecklos,
    daß ihr da hinausfahrt‹, sagte sie in Gedanken zu einer Gesellschaft in einem Vierspänner, die offenbar nach
    irgendeinem Lokale vor dem Tore fuhr, um sich dort zu vergnügen. ›Auch der Hund, den ihr mitgenommen habt, wird
    euch nichts nützen. Euch selbst könnt ihr doch nicht entfliehen.‹ Als sie einen Blick nach der Seite warf, wohin
    sich Peter umdrehte, sah sie einen sinnlos betrunkenen Fabrikarbeiter, der seinen Kopf kraftlos hin und her wackeln
    ließ und von einem Schutzmann weggeführt wurde. ›Da, von dem könnte man noch am ehesten sagen, daß er sich selbst
    entflohen ist‹, dachte sie. ›Aber ich und Graf Wronski, wir haben dieses Vergnügen ebensowenig kennengelernt wie
    die meisten anderen Menschen; und doch hatten wir uns soviel davon versprochen.‹ Und Anna richtete jetzt zum ersten
    Male die scharfe Beleuchtung, in der sie nun alles sah, auf ihr Verhältnis zu ihm, über das sie früher vermieden
    hatte nachzudenken. ›Was hat er bei mir gesucht? Nicht sosehr Liebe wie Befriedigung seiner Eitelkeit.‹ Sie rief
    sich sein Benehmen in der ersten Zeit ihrer Beziehungen ins Gedächtnis zurück: seine Worte, seinen
    Gesichtsausdruck, der sie an einen gehorsamen Hühnerhund erinnert hatte. Und in allem fand sie eine Bestätigung
    ihrer jetzigen Auffassung. ›Ja, seine Eitelkeit war stolz auf den errungenen Sieg. Natürlich, es war auch Liebe
    dabei; aber das Hauptstück seiner Empfindung war Stolz auf den Erfolg. Er prahlte mit ihr. Das ist jetzt vorüber.
    Es ist nichts da, worauf er stolz sein könnte. Da ist kein Anlaß mehr, auf mich stolz zu sein, wohl aber sich
    meiner zu schämen. Er hat mir alles genommen, was er mir nehmen konnte, und jetzt hat er mich nicht mehr nötig. Er
    empfindet mich als Last und ist nur noch darauf bedacht, in seinem Verhältnis zu mir nicht zu einem Ehrlosen zu
    werden. Gestern sagte er unversehens ein Wort zuviel: er wünschte die Scheidung und die Ehe, um seine Schiffe
    hinter sich zu verbrennen. Er liebt mich; aber wie? The zest is gone. 1 Der da will alle Leute in Staunen versetzen und ist mit sich selbst sehr zufrieden‹,
    dachte sie beim Anblick eines rotbackigen Kommis, der auf einem Mietgaul ritt. ›Ja, ich sage ihm nicht mehr
    sonderlich zu. Wenn ich von ihm weggehe, wird er im Grunde seines Herzens darüber froh sein.‹
    Und das war keine bloße Vermutung für sie, sondern sie erkannte das mit aller Klarheit in der scharfen
    Beleuchtung, in der sich ihr jetzt der Sinn des Lebens und der menschlichen Wechselbeziehungen erschloß.
    ›Meine Liebe wird immer leidenschaftlicher und selbstsüchtiger, und die seinige schwindet immer mehr dahin, und
    das ist der Grund, weshalb wir auseinandergeraten‹, fuhr sie in ihren Überlegungen fort. ›Und da ist nicht zu
    helfen. Mir ist er mein ein und alles, und ich verlange auch von ihm völlige Hingabe an mich. Sein Streben dagegen
    ist darauf gerichtet, sich immer mehr von mir loszulösen. Vor unserer Verbindung kamen wir einander entgegen;

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