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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sogar Sergei Iwanowitsch selbst auf einen solchen Scharfsinn stolz
    gewesen wäre; aber gerade das war ja eben an dieser Kritik das Entsetzliche.
    Obgleich Sergei Iwanowitsch sich eigentlich vorgenommen hatte, die Richtigkeit der Beschuldigungen des
    Rezensenten mit aller Gewissenhaftigkeit zu prüfen, so hielt er sich doch in Wirklichkeit keinen Augenblick bei den
    Mängeln und Irrtümern auf, über die jener gespottet hatte, sondern ging unwillkürlich sofort dazu über, sich seine
    Begegnung und sein Gespräch mit dem Verfasser dieser Besprechung bis in die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis
    zurückzurufen.
    ›Habe ich ihn vielleicht durch irgend etwas beleidigt?‹ fragte er sich.
    Und als er sich erinnerte, daß er bei jener Begegnung dem jungen Menschen eine Redewendung verbessert hatte,
    durch die dieser einen argen Mangel an Kenntnissen verraten hatte, da konnte Sergei Iwanowitsch nicht daran
    zweifeln, daß er damit die Erklärung für die gehässige Haltung des Aufsatzes gefunden habe.
    Nach dieser Beurteilung wurde nirgends mehr, weder in der Presse noch gesprächsweise, über das Buch auch nur ein
    Wort geäußert, und Sergei Iwanowitsch konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß dieses Werk, an dem er
    sechs Jahre lang mit soviel Liebe und Fleiß gearbeitet hatte, spurlos vorübergegangen war.
    Als eine weitere Unannehmlichkeit seiner jetzigen Lage empfand es Sergei Iwanowitsch, daß nun, nach Beendigung
    seines Buches, die stille Arbeit am Schreibtisch für ihn wegfiel, die in diesen Jahren einen großen Teil seiner
    Zeit ausgefüllt hatte.
    Sergei Iwanowitsch war ein kluger, gebildeter, gesunder, arbeitsfreudiger Mensch und wußte nicht, worauf er nun
    seine Tätigkeit richten sollte. Gespräche und Auseinandersetzungen in den Salons, in Vereinen, Versammlungen, auf
    Tagungen, kurz überall, wo überhaupt geredet werden konnte, nahmen einen Teil seiner Zeit in Anspruch; aber als
    langjähriger Stadtbewohner mochte er nicht ganz und gar in solchen Gesprächen und Verhandlungen aufgehen, wie das
    sein unerfahrener Bruder tat, wenn er zu Besuch in Moskau war; es blieb ihm noch viel freie Zeit und Geisteskraft
    übrig.
    Es traf sich für ihn glücklich, daß gerade in dieser Zeit, wo er sich wegen des Mißerfolges seines Buches
    unbehaglich fühlte, jene Fragen, die bisher im Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens gestanden hatten, nämlich
    die Fragen, die die Andersgläubigen, die amerikanischen Freunde, die Hungersnot im Gouvernement Samara, die
    Ausstellung, den Spiritismus und anderes betrafen, von einer anderen Frage abgelöst wurden, von der slawischen
    Frage, die bis dahin in Rußland nur geglimmt hatte; und Sergei Iwanowitsch, der schon früher mit anderen eifrig
    bemüht gewesen war, diese Frage zu hellerer Glut anzufachen, widmete sich ihr nun mit seiner ganzen Kraft.
    In dem Gesellschaftskreise, dem er angehörte, redete und schrieb man damals von nichts anderem als vom
    serbischen Kriege. Alles, was die müßige Menge für gewöhnlich tut, um die Zeit totzuschlagen, wurde jetzt zum
    Besten der slawischen Brüder getan. Bälle, Konzerte, Festmähler, Tischreden, Biertrinken, Wirtshausbesuche: alles
    zeugte von dem Mitgefühl mit den Stammesgenossen.
    Mit vielem, was hierüber geredet und geschrieben wurde, war Sergei Iwanowitsch nicht in allen Einzelheiten
    einverstanden. Er sah, daß die slawische Frage zur Mode geworden war, wie denn solche Moden immer, eine die andere
    ablösend, der vornehmen Gesellschaft zum Zeitvertreib dienen; er sah auch, daß nicht wenige lediglich mit
    selbstsüchtigen Absichten und ehrgeizigen Bestrebungen sich dieser Sache zu wandten. Er verhehlte sich nicht, daß
    die Zeitungen viel Unnützes und Übertriebenes druckten, nur in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken
    und andere zu überschreien. Er sah, daß bei dieser allgemeinen Begeisterung der Bevölkerung allerlei Leute, die
    bisher nicht zur Geltung gekommen waren und sich gekränkt fühlten, sich vordrängten und lauter schrien als die
    anderen: Oberbefehlshaber ohne Armeen, Minister ohne Ministerien, Journalisten ohne Zeitungen, Parteiführer ohne
    Anhänger. Er sah, daß dabei viel Hohlheit und Lächerlichkeit mit unterlief; aber er sah auch mit Genugtuung eine
    zweifellos echte, immer wachsende Begeisterung, in der alle Gesellschaftsklassen sich zusammenfanden und der man
    seine Anteilnahme nicht versagen konnte. Die Niedermetzelung der slawischen Glaubens- und

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