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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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aber
    seitdem gehen wir unaufhaltsam nach entgegengesetzten Seiten auseinander. Und eine Änderung läßt sich darin nicht
    herbeiführen. Er sagt mir, ich sei von einer sinnlosen Eifersucht, und dasselbe habe auch ich mir gesagt. Aber es
    ist nicht wahr: ich bin nicht eifersüchtig, sondern unzufrieden. Aber ...‹ Sie öffnete den Mund und setzte sich im
    Wagen auf einen anderen Platz infolge der Aufregung, in die ein plötzlich in ihr auftauchender Gedanke sie
    versetzte. ›Ja, wenn ich imstande wäre, etwas anderes zu sein als die Geliebte, die nur nach seinen Liebkosungen
    leidenschaftlich verlangt! Aber ich kann und will nichts anderes sein. Und durch dieses Verlangen nach Liebe errege
    ich bei ihm ein Gefühl der Abneigung, und dadurch wächst bei mir ein Ingrimm heran, und das ist gar nicht anders
    möglich. Ich weiß ja, daß er mich nicht hintergehen würde, daß er keine Absichten auf die Prinzessin Sorokina hat,
    daß er nicht in Kitty verliebt ist, daß er mir nicht untreu werden wird. Das weiß ich alles; aber dadurch wird mir
    nicht leichter ums Herz. Ist er, ohne mich zu lieben, zwar aus Pflichtgefühl gut und zärtlich gegen mich, fehlt
    aber dabei eben das, wonach ich verlange, so ist das schlimmer, tausendmal schlimmer als wechselseitiger Groll! Das
    ist die Hölle! Und geradeso ist es bei uns. Er liebt mich schon längst nicht mehr. Wo aber die Liebe aufhört, da
    beginnt der Haß ... Diese Straßen kenne ich ja gar nicht. Bergauf, bergab, und überall Häuser und Häuser ... Und in
    den Häusern überall Menschen und Menschen ... Wie viele Menschen gibt es da, endlos viele, und alle hassen sie
    einander. Nun, ich könnte mir ja einmal überlegen, was ich mir wohl wünschen möchte, um glücklich zu sein. Nun, was
    denn also? Ich erlange die Scheidung; Alexei Alexandrowitsch überläßt mir Sergei, und ich heirate Wronski.‹ Bei der
    Erinnerung an Alexei Alexandrowitsch glaubte sie ihn auf einmal mit außerordentlicher Deutlichkeit wie lebend vor
    sich zu sehen, mit seinen sanften, matten, halb erloschenen Augen, mit den blauen Adern auf den weißen Händen, mit
    dem eigentümlichen Tonfall seiner Stimme und dem Knacken seiner Finger; und als sie dabei an das Gefühl dachte, das
    zwischen ihnen bestanden hatte und das gleichfalls Liebe genannt worden war, da zuckte sie vor Ekel zusammen. ›Also
    ich erlange die Scheidung und werde Wronskis Frau. Ob mich Kitty dann wohl mit anderen Augen ansehen wird als
    heute? Nein. Und wird Sergei dann aufhören, sich danach zu erkundigen und darüber nachzudenken, welche Bewandtnis
    es mit meinen beiden Männern hat? Und welches neue Gefühl könnte ich mir dann zwischen mir und Wronski aussinnen?
    Ist denn irgendein, ich will gar nicht sagen Glück, sondern auch nur Freisein von Qual möglich? Nein und abermals
    nein!‹ gab sie sich selbst ohne das leiseste Schwanken zur Antwort. ›Es ist unmöglich! Wir werden lebenslänglich
    nach verschiedenen Seiten gehen, und ich werde ihn unglücklich machen und er mich, und weder er wird sich ändern
    lassen noch ich mich. Alle möglichen Versuche sind bereits angestellt; die Schraube ist überdreht ... Da sitzt eine
    Bettlerin mit einem kleinen Kinde; sie meint, sie werde Mitleid erregen. Aber sind wir denn nicht allesamt in diese
    Welt hineingeworfen, nur um einander zu hassen und dadurch uns und anderen Qual zu bereiten? Da gehen Gymnasiasten;
    sie lachen. Und mein Sergei?‹ dachte sie dabei. ›Den habe ich ebenfalls zu lieben geglaubt und war ordentlich
    gerührt über meine eigene Zärtlichkeit. Und doch habe ich auch ohne ihn gelebt und habe ihn gegen eine andere Liebe
    hingegeben und diesen Tausch nicht bereut, solange mich jene andere Liebe befriedigte.‹ Und mit Abscheu erinnerte
    sie sich an das, was sie jene andere Liebe nannte. Und die Klarheit, mit der sie jetzt ihr eigenes Leben und das
    Leben aller Menschen sah und durchschaute, bereitete ihr Freude. ›So geht es mit mir, und mit Peter, und mit dem
    Kutscher Fjodor, und mit diesem Kaufmann da, und mit all den Menschen, die dort an der Wolga wohnen, auf der zu
    fahren diese Plakate der Dampfschiffahrtsgesellschaften einladen, und so geht es überall, überall‹, dachte sie, als
    sie bei dem niedrigen Bahnhofsgebäude der Nischegoroder Bahn vorfuhr und die Gepäckträger aus dem Bahnhof heraus an
    den Wagen gelaufen kamen.
    »Befehlen Sie eine Fahrkarte nach Obiralowka?« fragte Peter.
    Sie hatte ganz vergessen, wohin sie reisen wollte und zu

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