Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
sie ihn wegen der Niedrigkeit dieses Gefühls im Vergleich mit jenem anderen Gefühle, das nur den Frauen bekannt sei, verachtete. »Damals, als Sie Kitty einen Antrag machten, da befand sie sich gerade in einer Lage, die ihr die Antwort erschwerte. Es war bei ihr ein Zustand des Hin- und Herschwankens. Sie schwankte: Sie oder Wronski. Ihn sah sie täglich; Sie hatte sie seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Allerdings, wenn sie älter gewesen wäre ... Für mich zum Beispiel wäre an ihrer Stelle ein Schwanken ausgeschlossen gewesen. Er ist mir immer zuwider gewesen, und der Ausgang hat mir recht gegeben.«
Ljewin dachte an Kittys Antwort. Sie hatte gesagt: ›Es kann nicht sein ...‹
»Darja Alexandrowna«, antwortete er trocken, »ich weiß das gute Zutrauen, das Sie zu mir haben, zu schätzen. Aber ich glaube, Sie irren sich. Indessen, ob ich nun recht oder unrecht habe, jedenfalls hat dieser von Ihnen so verachtete Stolz die Wirkung, daß für mich jeder Gedanke an Katerina Alexandrowna ein Ding der Unmöglichkeit ist ... verstehen Sie wohl: geradezu ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Ich möchte nur noch eins sagen: bedenken Sie, daß ich von meiner Schwester rede, die ich ebenso liebhabe wie meine eigenen Kinder. Ich sage nicht, daß sie Sie liebt; ich wollte nur sagen, daß ihre abschlägige Antwort in jenem Augenblicke nichts beweist.«
»Das weiß ich denn doch nicht!« rief Ljewin aufspringend. »Wenn Sie wüßten, wie wehe Sie mir tun! Es ist dasselbe, wie wenn Ihnen ein Kind gestorben wäre und jemand zu Ihnen sagte: ›Soundso hätte das Kind sein sollen, dann hätte es können am Leben bleiben, und Sie hätten Ihre Freude an ihm gehabt.‹ Aber es ist doch nun tot, tot, tot ...«
»Wie komisch Sie sind«, sagte Darja Alexandrowna mit trübem Lächeln, da sie Ljewins Erregung sah. »Ja, ja, jetzt wird mir alles immer besser verständlich«, fuhr sie nachdenklich fort. »Sie werden also wohl nicht zu uns kommen, wenn Kitty hier ist?«
»Nein, ich werde nicht kommen. Natürlich werde ich Katerina Alexandrowna nicht ängstlich vermeiden; aber soweit ich kann, werde ich mich bemühen, ihr die Unannehmlichkeit meiner Anwesenheit zu er sparen.«
»Sie sind sehr, sehr komisch«, sagte Darja Alexandrowna noch einmal und blickte ihm dabei voll herzlicher Freundlichkeit ins Gesicht. »Also gut, wir wollen dieses ganze Gespräch als ungeschehen betrachten. Nun, was wünschest du, Tanja?« fragte Darja Alexandrowna auf französisch ihr Töchterchen, das in die Veranda kam.
»Wo ist meine Schaufel, Mama?«
»Ich spreche Französisch, dann mußt du es auch tun.«
Die Kleine wollte ihre Frage auf französisch wiederholen, hatte aber vergessen, wie die Schaufel auf französisch heißt; die Mutter half ihr ein und sagte ihr dann auf französisch, wo sie die Schaufel suchen müsse. Das machte auf Ljewin einen unangenehmen Eindruck.
Jetzt kam ihm an Darja Alexandrownas Haushalt und an ihren Kindern alles gar nicht mehr so hübsch und nett vor wie vorher.
›Und warum spricht sie mit den Kindern Französisch?‹ dachte er. ›Wie unnatürlich das ist! Es liegt eine Art von Unwahrhaftigkeit darin! Und auch die Kinder haben ein Gefühl dafür. Man bringt ihnen das Französische bei und entwöhnt sie dabei von der Aufrichtigkeit‹, dachte er bei sich selbst, ohne zu wissen, daß Darja Alexandrowna all das schon zwanzigmal überlegt und dennoch, ob auch zum Schaden der Aufrichtigkeit, es für notwendig erachtet hatte, ihre Kinder in dieser Weise zu bilden.
»Aber warum wollen Sie denn schon fort? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!«
Ljewin blieb noch zum Tee; aber seine Heiterkeit war verschwunden, und er fühlte sich unbehaglich.
Nach dem Tee ging er ins Vorzimmer, um Befehl zum Anspannen zu geben, und als er zurückkehrte, fand er Darja Alexandrowna in höchster Aufregung, mit verstörtem Gesichte und Tränen in den Augen. Während Ljewin hinausgegangen war, hatte sich ein Ereignis zugetragen, durch das plötzlich ihre ganze heutige Glückseligkeit und ihr Stolz über die Kinder zunichte geworden war: Grigori und Tanja hatten sich wegen eines Balles geprügelt! Darja Alexandrowna hatte gehört, daß in der Kinderstube ein furchtbares Geschrei war; sie war hingelaufen und hatte die beiden Kinder in einem schrecklichen Zustande gefunden: Tanja hielt Grigori an den Haaren gepackt, und er, dessen Gesicht von Wut ganz entstellt war, schlug auf sie mit
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