Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ganze Nachtwache übernehmen wollte und sie sich trotz des Verbotes, dies zu tun, in die Nachtwache teilten; da war nun Iwan, der den ganzen Tag über gearbeitet hatte, eingeschlafen und gestand seine Sünde, indem er hinzufügte: »Ganz wie Sie befehlen.« Die drei besten Kälber wurden von den Leuten durch falsche Fütterung zugrunde gerichtet, indem sie sie, ohne sie zu tränken, in das Kleegrummet hineinließen, und sie wollten ganz und gar nicht glauben, daß das der Klee war, der die Tiere so auf trieb, sondern erzählten ihm zum Troste, beim Nachbar seien in drei Tagen hundertzwölf Stück Vieh gefallen. All das geschah nicht etwa, weil jemand Ljewin oder seiner Wirtschaft Böses gewünscht hätte; im Gegenteil, er wußte, daß ihn die Leute gern hatten und ihn für einen einfachen Herrn hielten (was das höchste Lob ist); sondern es geschah nur deshalb, weil sie vergnügt und sorglos arbeiten wollten und seine Interessen ihnen nicht nur fremd und unverständlich waren, sondern auch zu ihren wohlberechtigten Interessen in einem verhängnisvollen Gegensatze standen. Schon seit längerer Zeit hatte sich Ljewin von seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit nicht recht befriedigt gefühlt. Er hatte gemerkt, daß sein Kahn leck war; aber er hatte das Leck nicht gefunden, auch vielleicht in absichtlicher Selbsttäuschung gar nicht danach gesucht (es wäre ihm gar nichts mehr an Lebensfreude übriggeblieben, wenn er nun auch mit seiner Wirtschaft eine Täuschung erlebt hätte). Aber jetzt konnte er sich nicht länger täuschen. Seine jetzige Art des Wirtschaftsbetriebes war ihm nicht nur uninteressant, sondern geradezu widerwärtig geworden, und er konnte es nicht über sich gewinnen, sich noch länger damit zu beschäftigen.
Dazu kam noch der Umstand, daß Kitty Schtscherbazkaja, die er so gern gesehen hätte und doch, nach seiner Empfindung, nicht sehen durfte, sich nur dreißig Werst von ihm entfernt befand. Darja Alexandrowna Oblonskaja hatte ihn, als er bei ihr war, eingeladen wiederzukommen: wiederzukommen, um ihrer Schwester noch einmal einen Antrag zu machen, den diese, wie Darja merken ließ, jetzt annehmen werde; und Ljewin selbst hatte, als er Kitty Schtscherbazkaja erblickte, gefühlt, daß er sie noch immer liebte. Aber er konnte nicht zu Oblonskis hinfahren, nun er wußte, daß sie da war. Er hatte ihr einen Antrag gemacht und sie hatte ihn abgelehnt; dadurch war zwischen ihm und ihr eine unübersteigliche Mauer errichtet. ›Ich kann sie nicht bitten, mein Weib lediglich deshalb zu werden, weil sie nicht hat das Weib dessen werden können, den sie haben wollte‹, sagte er zu sich selbst. Der Gedanke daran versetzte ihn in eine kalte, feindselige Stimmung gegen sie. ›Ich werde nicht imstande sein, mit ihr zu reden, ohne ihr im stillen einen Vorwurf zu machen, werde sie nicht ansehen können, ohne ihr zu grollen, und sie wird mich nur um so mehr hassen, wie das ja auch ganz natürlich ist. Und ferner, wie kann ich jetzt, nach dem, was mir Darja Alexandrowna gesagt hat, zu ihnen hinfahren? Kann ich denn tun, als wüßte ich das, was sie mir gesagt hat, gar nicht? Und ich soll zu einem Großmutsakte hinkommen – um ihr zu verzeihen, sie zu Gnaden anzunehmen. Ich soll vor sie hintreten in der Rolle des Verzeihenden, der sie seiner Liebe würdigt! Warum hat Darja Alexandrowna das überhaupt zu mir gesagt? Ich hätte sie ja zufällig sehen können, und dann hätte sich alles von selbst gemacht; aber jetzt ist es unmöglich, ganz unmöglich!‹
Darja Alexandrowna schickte ihm ein paar Zeilen, in denen sie ihn um einen Damensattel für Kitty bat. »Es ist mir gesagt worden, Sie hätten einen solchen Sattel«, schrieb sie ihm. »Ich hoffe, Sie werden ihn persönlich herbringen.«
Das war ihm zuviel, das konnte er nicht mehr ertragen! Wie konnte nur eine kluge, zartfühlende Frau ihre Schwester in solcher Weise erniedrigen! Er schrieb zehn Antworten, zerriß sie sämtlich und schickte ihr den Sattel ohne jedes Begleitschreiben hin. Zu schreiben, er werde hinkommen, das ging nicht, weil er ja doch nicht hinkommen konnte; und zu schreiben, er könne nicht kommen, da er irgendwelche Behinderung habe oder verreise, das war noch schlimmer. So übersandte er denn den Sattel ohne Zuschrift, und in dem Bewußtsein, etwas getan zu haben, dessen er sich schämen müsse, übergab er gleich am nächsten Tage die ganze ihm so widerwärtig gewordene Wirtschaft dem Verwalter und fuhr nach einem ziemlich weit
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