Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
möglich gewesen. Nein, ich will dir keinen Vorwurf machen!«
Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und sah ihn lange mit einem tiefen, entzückten und zugleich forschenden Blicke an. Sie betrachtete jeden Zug seines Gesichts, um sich für die lange Zeit, da sie ihn nicht gesehen hatte, schadlos zu halten. Wie bei jedem Wiedersehen verglich sie das Bild, das sie sich in Gedanken von ihm gemacht hatte (ein unvergleichlich schöneres, in der Wirklichkeit unmögliches Bild), mit ihm, wie er tatsächlich war.
3
» B ist du ihm begegnet?« fragte sie ihn, als sie am Tische bei der Lampe saßen. »Siehst du, das ist deine Strafe dafür, daß du zu spät gekommen bist.«
»Ja, aber wie ist das nur zugegangen? Er sollte ja doch in der Sitzung sein?«
»Er ist auch dagewesen, kam aber früher zurück und fuhr dann wieder fort, ich weiß nicht wohin. Aber über diese Begegnung wollen wir uns weiter nicht aufregen; sprich nicht mehr davon! Wo bist du inzwischen gewesen? Immer mit dem Prinzen zusammen?«
Sie kannte alle Einzelheiten seines Lebens. Er wollte ihr schon sagen, daß er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und dann vom Schlafe übermannt worden sei; aber als er in ihr erregtes, glückliches Gesicht blickte, schämte er sich zu sagen, daß er die Zeit verschlafen habe. Er sagte lieber, er habe ausfahren müssen, um von der Abreise des Prinzen Meldung abzustatten.
»Aber jetzt ist das zu Ende? Er ist abgereist?«
»Ja, Gott sei Dank, es ist zu Ende. Du glaubst gar nicht, wie widerwärtig mir die Sache gewesen ist.«
»Aber warum denn? Das ist doch das Leben, das ihr jungen Männer immer führt«, erwiderte sie, griff, die Brauen zusammenziehend, nach einer Häkelarbeit, die auf dem Tische lag, und schickte sich an, ohne Wronski anzusehen, den Häkelhaken aus ihr herauszuziehen.
»Ich habe dieses Leben schon längst aufgegeben«, versetzte er, erstaunt über die Veränderung ihres Gesichtsausdrucks und bemüht, die Bedeutung dieser Veränderung zu erkennen. »Und ich muß bekennen«, fuhr er fort und lächelte dabei, so daß seine lückenlosen, weißen Zähne sichtbar wurden, »ich habe diese Woche über, während ich dieses Leben mit ansah, mich wie in einem Spiegel betrachtet, und es war mir recht unerfreulich.«
Sie hielt die Häkelarbeit in den Händen, häkelte aber nicht daran, sondern sah ihn mit einem sonderbaren, funkelnden, unfreundlichen Blicke an.
»Heute morgen hat mich Lisa besucht – die Damen scheuen sich noch nicht, mit mir zu verkehren, trotz der Gräfin Lydia Iwanowna«, schaltete sie ein – »und mir von eurer athenischen Soiree erzählt. Wie ekelhaft!«
»Ich wollte nur sagen, daß ...«
Sie unterbrach ihn.
»War das jene Französin Therese, mit der du früher bekannt warst?«
»Ich wollte sagen ...«
»Wie abscheulich seid ihr Männer doch! Könnt ihr denn nicht begreifen, daß eine Frau so etwas nicht vergessen kann?« sagte sie; sie wurde dabei immer heftiger und verriet ihm dadurch die Ursache ihrer Gereiztheit. »Besonders eine Frau, die nicht wissen kann, wie du fern von ihr lebst. Was weiß ich denn von deinem Leben? Was habe ich denn davon gewußt? Nur was du mir sagst. Und woher soll ich wissen, ob du mir die Wahrheit sagst?«
»Anna, du kränkst mich. Glaubst du mir denn nicht? Habe ich dir nicht gesagt, daß in meinem Kopfe kein Gedanke ist, den ich dir nicht mitteilen würde?«
»Ja, ja«, antwortete sie, sichtlich bemüht, ihre eifersüchtigen Regungen niederzukämpfen. »Aber wenn du wüßtest, wie schwer mir ums Herz ist! ... Ich glaube dir ja, ich glaube dir ... Also was wolltest du sagen?«
Aber er konnte sich nicht sogleich erinnern, was er hatte sagen wollen. Diese Anfälle von Eifersucht, die sich in der letzten Zeit immer häufiger bei ihr wiederholten, erschreckten ihn und machten, wie sehr er dies auch zu verbergen suchte, sein Gefühl ihr gegenüber kälter, obschon er wußte, daß die Ursache dieser Eifersucht lediglich ihre Liebe zu ihm war. Wie oft sagte er sich, daß sein Glück darin bestehe, von ihr geliebt zu werden; und nun liebte sie ihn mit aller Kraft, mit der ein Weib nur lieben konnte, dem die Liebe höher stand als alle Güter des Lebens – und doch war er jetzt viel weiter davon entfernt, sich glücklich zu fühlen, als damals, wo er ihr aus Moskau nachgereist war. Damals hatte er sich für unglücklich gehalten und sein Glück von der Zukunft
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