Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Gipfel der Vollkommenheit darstellte. Nachdem er mit dem Fuße fertig war, wollte er auch diese Figur noch vornehmen; aber er fühlte sich doch zu aufgeregt dazu. Er war gleichermaßen unfähig zu arbeiten, wenn er sich in kühler Stimmung befand und wenn er gar zu weich war und alles, was er sah, ihn zu sehr ergriff. Auf dieser Stufenleiter zwischen Kälte und Ekstase gab es nur eine einzige Stufe, auf der ihm das Arbeiten möglich war. Augenblicklich aber war er zu aufgeregt. Er wollte das Bild wieder verhüllen, hielt aber inne und betrachtete, das Laken in der Hand haltend, mit glückseligem Lächeln lange die Figur des Johannes. Endlich riß er sich, wie mit einem Gefühl der Trauer, von ihr los, ließ das Laken darüberfallen und ging müde, aber glücklich nach seiner Wohnung.
Wronski, Anna und Golenischtschew waren auf dem Heimweg besonders lebhaft und heiter. Sie sprachen von Michailow und seinen Bildern. Das Wort Talent, unter dem sie eine angeborene, beinahe körperliche, von Verstand und Herz unabhängige Fähigkeit verstanden und mit dem sie alles das bezeichnen wollten, was das geistige Leben eines Künstlers ausmacht, kam in ihrem Gespräch besonders häufig vor, da es ihnen unentbehrlich war zur Bezeichnung von etwas, wovon sie keinen Begriff hatten und doch reden wollten. Sie sagten, Talent lasse sich ihm nicht absprechen, aber sein Talent habe sich infolge des Mangels an Bildung nicht recht entwickeln können – das gemeinsame Unglück unserer russischen Künstler. Aber das Bild mit den Knaben war in ihrem Gedächtnis haftengeblieben, und immer wieder kamen sie im Gespräch darauf zurück. »Wie reizend! Wie gut ihm das gelungen ist, und wie schlicht und natürlich! Er hat selbst gar kein Verständnis dafür, wie schön es ist! Ja, das dürfen wir uns nicht entgehen lassen; das müssen wir kaufen«, sagte Wronski.
13
M ichailow hatte sein Bild an Wronski verkauft und sich bereit erklärt, Annas Bildnis zu malen. Am festgesetzten Tage kam er und begann mit der Arbeit.
Das Bildnis überraschte von der fünften Sitzung an alle und namentlich Wronski nicht nur durch seine Ähnlichkeit, sondern auch durch die eigenartige Schönheit. Es war merkwürdig, wie Michailow jene eigenartige Schönheit Annas hatte herausfinden können. ›Eigentlich muß man sie so kennen und lieben, wie ich sie geliebt habe, um diesen so liebreizenden, seelischen Ausdruck an ihr zu entdecken‹, dachte Wronski, obgleich er erst aus diesem Bildnis diesen ihren liebreizenden, seelischen Ausdruck kennengelernt hatte. Aber dieser Ausdruck war so lebenswahr, daß Wronski und andere die Empfindung hatten, als hätten sie ihn schon längst an Anna selbst gekannt.
»Wie lange mühe ich mich schon ab und habe nichts zustande gebracht«, sagte er mit Bezug auf das von ihm selbst gemalte Bildnis, »und dieser Mensch sieht sie an und malt sie hin. Da sieht man den Wert der Technik!«
»Das kommt schon noch«, tröstete ihn Golenischtschew, nach dessen Vorstellung Wronski Talent und als besonders wichtiges Erfordernis den Bildungsgrad besaß, der allein eine Kunstanschauung von höherem Standpunkte aus ermöglicht. Golenischtschews Überzeugung von Wronskis Talent wurde dadurch noch verstärkt, daß er für seine Abhandlungen und Ideen Wronskis Anteilnahme und Lob nötig hatte und fühlte, daß Lob und Unterstützung gegenseitig sein müßten.
In einem fremden Hause und besonders in dem Palazzo bei Wronski war Michailow ein ganz anderer Mensch als bei sich in seinem Atelier. Er benahm sich mit einer Art von feindseliger Ehrerbietung, als fürchte er eine Annäherung an Leute, die er nicht achten könne. Er redete Wronski immer Euer Erlaucht an, blieb trotz aller Einladungen Annas und Wronskis nie zum Mittagessen da und kam nie außerhalb der Sitzungen zu ihnen. Anna zeigte sich ihm gegenüber noch freundlicher als gegen andere und war ihm für ihr Bildnis aufrichtig dankbar. Wronski behandelte ihn mit außerordentlicher Höflichkeit und hätte offenbar gern den Künstler dazu veranlaßt, über seine Dilettantenleistungen ein Urteil abzugeben. Golenischtschew ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um Michailow zu richtigeren Anschauungen über die Kunst hinzuleiten. Aber Michailow blieb gegen alle drei gleich kühl. Anna fühlte an seinem Blick, daß er sie gern ansah; aber er vermied es, sich mit ihr in ein Gespräch einzulassen. Wenn Wronski von seinen Malversuchen zu reden anfing, so schwieg er
Weitere Kostenlose Bücher