Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
jeden Wortes zu ergründen suchte. Konstantin teilte ihm mit, daß seine Frau mitgekommen sei. Nikolai drückte seine Freude darüber aus, fügte aber hinzu, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Es trat ein Stillschweigen ein. Auf einmal geriet Nikolai in Bewegung und begann zu sprechen. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes hatte Konstantin etwas besonders Bedeutsames, Wichtiges erwartet; aber Nikolai redete nur von seiner Gesundheit. Er schalt auf den Arzt, bedauerte, daß eine gewisse Moskauer Berühmtheit nicht da sei, und Konstantin merkte, daß er immer noch hoffte, wieder gesund zu werden.
Den ersten Augenblick, da Nikolai wieder schwieg, benutzte Konstantin, um aufzustehen; er wollte wenigstens für einen Augenblick diese qualvollen Empfindungen loswerden. Er sagte, er wolle gehen und seine Frau holen.
»Nun schön, und ich will hier erst noch rein machen lassen. Es ist hier schmutzig und schlechte Luft, glaube ich. Marja, räume hier auf«, sagte der Kranke mit Anstrengung. »Und wenn du aufgeräumt hast, dann geh hinaus«, fügte er mit einem fragenden Blick nach seinem Bruder hinzu.
Konstantin antwortete nicht. Als er auf den Flur hinausgetreten war, blieb er stehen. Er hatte gesagt, er wolle seine Frau holen; aber jetzt, wo er sich Rechenschaft gab über die Empfindung, die ihn erfüllte, entschied er sich dafür, ihr im Gegenteil zuzureden, daß sie von einem Besuch bei dem Kranken Abstand nehmen möchte. ›Wozu soll sie dieselbe Qual ausstehen wie ich?‹ dachte er.
»Nun, wie steht es? Wie ist es mit ihm?« fragte Kitty mit ängstlichem Gesichte.
»Ach, es ist furchtbar, ganz furchtbar! Warum bist du nur mit hergekommen?« antwortete Konstantin.
Kitty schwieg einige Sekunden und blickte ihren Mann schüchtern und mitleidig an; dann trat sie zu ihm und faßte mit beiden Händen seinen Ellbogen.
»Konstantin, führe mich zu ihm; zu zweien werden wir es leichter tragen. Führe du mich nur zu ihm hin; bitte, führe mich zu ihm hin, und dann kannst du ja selbst hinausgehen«, bat sie. »Du mußt doch einsehen, daß ich weit schwerer leide, wenn ich nur dich sehe und nicht ihn. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich sein können. Bitte, bitte, erlaube es!« flehte sie ihren Mann an, als ob das Glück ihres Lebens davon abhinge.
Konstantin mußte ihr nachgeben; sobald er seine Fassung wiedergewonnen hatte, ging er mit Kitty zu seinem Bruder; Marja Nikolajewna hatte er nun vollständig vergessen.
Leicht auftretend, ihren Mann beständig anblickend und ihm ein tapferes, teilnahmsvolles Gesicht zeigend, ging Kitty in das Zimmer des Kranken und schloß, indem sie sich ohne Hast umwandte, geräuschlos die Tür. Mit unhörbaren Schritten trat sie schnell an das Lager des Kranken heran, und nachdem sie so herumgegangen war, daß er den Kopf nicht zu wenden brauchte, nahm sie sofort seine große, skelettartige Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie und begann mit jener nur den Frauen eigenen teilnahmsvollen, stillen Lebhaftigkeit, die nichts Verletzendes hat, mit ihm zu sprechen.
»Wir sind uns schon in Soden begegnet, aber ohne miteinander bekannt zu werden«, sagte sie. »Das haben Sie wohl nicht gedacht, daß ich Ihre Schwägerin werden würde?«
»Sie hätten mich wohl nicht wiedererkannt?« fragte er mit einem hellen Lächeln, das bei ihrem Kommen sein Gesicht überzogen hatte.
»O doch, doch, ich hätte Sie erkannt. Wie lieb von Ihnen, daß Sie uns benachrichtigt haben! Es ging kein Tag vorüber, ohne daß Konstantin an Sie gedacht und sich um Sie beunruhigt hätte.«
Aber die freudige Erregung hielt bei dem Kranken nicht lange an.
Sie hatte noch nicht ausgeredet, da trat auf sein Gesicht wieder der strenge, vorwurfsvolle Ausdruck des Neides, den der Sterbende gegen den Lebenden empfindet.
»Ich fürchte, Sie sind hier nicht gerade sehr gut aufgehoben«, sagte sie, indem sie sich von seinem unverwandten starren Blicke abwandte und sich im Zimmer umsah. »Wir sollten den Wirt um ein anderes Zimmer ersuchen«, sagte sie zu ihrem Mann, »auch schon, um einander näher zu sein.«
18
K onstantin konnte seinen Bruder nicht ruhig ansehen; er brachte es nicht fertig, sich in dessen Gegenwart natürlich und ruhig zu benehmen. Sobald er in das Zimmer des Kranken trat, überzog, ohne daß er es selbst recht merkte, eine Art von Nebel seine Augen und sein Wahrnehmungsvermögen, so daß er die Einzelheiten
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