Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
entschließen können, ihn allein wegzulassen, wo es doch nötig war (und wie sonderbar war es ihm zu denken, daß er vor noch ganz kurzer Zeit nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß sie ihn lieben könne, und sich jetzt unglücklich fühlte, weil sie ihn zu sehr liebte!). Und mit sich selbst war er unzufrieden, weil er keine Charakterfestigkeit bewiesen hatte. Noch weniger war er im Grunde seines Herzens mit seiner Frau darin einverstanden, daß die Anwesenheit jener Frauensperson, die bei seinem Bruder war, sie ja gar nichts angehe, und er dachte mit Schrecken an alle die Zwischenfälle, die dadurch veranlaßt werden konnten. Schon allein der Gedanke, daß seine Frau, seine Kitty, in ein und demselben Zimmer mit einer ehemaligen Dirne sein solle, ließ ihn vor Widerwillen und Entsetzen zusammenzucken.
17
D as Gasthaus der Gouvernementsstadt, in dem Nikolai Ljewin krank lag, war eines jener Provinzhotels, die ursprünglich nach dem modernen, vervollkommneten Zuschnitt mit den besten Absichten in bezug auf Reinlichkeit, Bequemlichkeit und sogar Vornehmheit eingerichtet worden sind, sich aber dann durch das Publikum, das sie besucht, außerordentlich schnell in schmutzige Herbergen, immer noch mit dem trügerischen Firnis moderner Vervollkommnungen, verwandeln und eben durch diesen trügerischen Firnis sich noch übler ausnehmen als die altmodischen Gasthäuser, die einfach schmutzig sind. Dieses Gasthaus war bereits bei diesem Entwicklungszustande angelangt; der alte, verabschiedete Soldat in seiner schmutzigen Uniform, der an der Haustür eine Zigarette rauchte und einen Pförtner vorstellen sollte, und die gußeiserne, durchbrochene, düstere, unerfreuliche Treppe, und der Kellner in schmutzigem Frack mit seinem ungehobelten Wesen, und der Speisesaal mit dem verstaubten Strauß aus Wachsblumen als Tischschmuck, und der Schmutz, der Staub und die überall sichtbare Nachlässigkeit, und dazu noch eine gewisse neumodische, eisenbahnmäßige, selbstzufriedene Geschäftigkeit in diesem Gasthause; all das wirkte auf Ljewin und seine Frau nach dieser ersten Zeit ihres Ehelebens überaus abstoßend, namentlich auch, weil der trügerische Eindruck, den das Gasthaus zunächst machte, ganz und gar nicht zu der Wirklichkeit stimmte, die sie dann vorfanden.
Wie immer, stellte sich nach der Frage, zu welchem Preise sie ein Zimmer wünschten, heraus, daß überhaupt kein einziges ordentliches Zimmer frei war: ein gutes Zimmer hatte ein Eisenbahnrevisor inne, ein anderes ein Rechtsanwalt aus Moskau, ein drittes die Fürstin Astafjewa, die von ihrem Landgut in die Stadt gekommen war. Verfügbar war augenblicklich nur ein einziges, schmutziges Zimmer; man stellte in Aussicht, daß das daneben gelegene zum Abend frei werden würde. Ljewin war recht ärgerlich auf seine Frau, weil eingetroffen war, was er erwartet hatte, nämlich daß er im Augenblick der Ankunft, wo er in höchster Angst und Aufregung um das Befinden seines Bruders war, für Kittys Unterkunft sorgen mußte, statt unverzüglich zu Nikolai hinzueilen; in solcher Stimmung führte er sie in das ihnen angewiesene Zimmer.
»Geh nur, geh nur!« sagte sie und sah ihn mit einem schüchternen, schuldbewußten Blick an.
Er ging schweigend aus der Tür und stieß draußen sofort auf Marja Nikolajewna, die von seiner Ankunft gehört, aber nicht gewagt hatte, zu ihm ins Zimmer hineinzugehen. Sie sah noch ganz ebenso aus, wie er sie in Moskau gesehen hatte: dasselbe wollene Kleid und die nackten Arme und der nackte Hals und dasselbe gutmütig stumpfe, etwas voller gewordene, pockennarbige Gesicht.
»Nun, wie steht es? Wie geht es ihm?«
»Sehr schlecht. Er wird nicht durchkommen. Er hat immer auf Sie gewartet Er ... Sie sind mit Ihrer Frau Gemahlin hier?«
Ljewin begriff im ersten Augenblicke nicht, was sie in solche Verlegenheit versetzte; aber sie klärte ihn sofort darüber auf.
»Ich will fortgehen, ich gehe in die Küche«, sagte sie. »Er wird sich sehr freuen. Er hat viel von ihr gehört und kennt sie und erinnert sich ihrer vom Auslande her.«
Ljewin verstand nun, daß sie sich über seine Frau beunruhigte, und wußte nicht, was er ihr antworten sollte.
»Kommen Sie, wir wollen zu ihm gehen!« sagte er.
Aber kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, als sich die Tür seines Zimmers öffnete und Kitty herausblickte. Ljewin errötete vor Scham und vor Ärger über seine Frau, die sich und ihn in eine so
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