Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Besinnung!« fügte sie lachend hinzu. »Na, du kannst jetzt zu Fanny gehen«, sagte sie zu Mascha. »Nein, wenn du nun einmal solche Absichten hast, so kann ich es ja Stiwa sagen. Der wird ihn schon fortschaffen. Er kann sagen, du erwartetest noch mehr Gäste. Übrigens paßt er wirklich nicht in dieses Haus hinein.«
»Nein, nein, ich werde es selbst besorgen.«
»Aber du wirst einen argen Streit mit ihm haben ...«
»Keineswegs. Es wird für mich eine sehr vergnügliche Sache sein, wirklich sehr vergnüglich«, versetzte Ljewin mit blitzenden Augen. »Na, nun verzeih ihr nur, Dolly! Sie wird es nicht wieder tun«, sagte er über die kleine Verbrecherin, die noch nicht zu Fanny gegangen war, sondern unschlüssig der Mutter gegenüberstand, mit gesenktem Kopfe zu ihr hinschielte und einen Blick von ihr aufzufangen suchte.
Die Mutter sah sie an. Die Kleine brach in Schluchzen aus, vergrub sich mit dem Gesicht zwischen den Knien der Mutter, und Dolly legte ihr ihre magere, zarte Hand auf den Kopf.
›Was haben wir und er überhaupt miteinander zu schaffen?‹ dachte Ljewin und ging hin, um Weslowski aufzusuchen.
Als er durch das Vorzimmer kam, gab er Befehl, die Kalesche für eine Fahrt nach dem Bahnhof anzuspannen. »Es ist gestern eine Feder daran zerbrochen«, antwortete der Diener.
»Nun, dann das Reisewägelchen, aber schnell. Wo ist der fremde Herr?«
»Der Herr ist in sein Zimmer gegangen.«
Dort traf ihn Ljewin. Wasenka hatte gerade seine Sachen aus dem Koffer gepackt, die neuen Lieder zurechtgelegt und war im Augenblick damit beschäftigt, ein Paar Gamaschen anzuprobieren, um auszureiten.
Ob nun Ljewins Gesicht irgendwelchen besonderen Ausdruck trug oder ob Wasenka selbst das Gefühl hatte, daß ce petit brin de cour 4 , den er angefangen hatte, in dieser Familie denn doch nicht recht angebracht sei, jedenfalls geriet er bei Ljewins Eintritt in eine gewisse Verlegenheit, soweit das bei einem gewandten Lebemann eben möglich ist.
»Sie reiten in Gamaschen?«
»Ja, es ist doch weit sauberer«, versetzte Wasenka, stellte sein dickes Bein auf einen Stuhl, machte den untersten Haken zu und lächelte heiter und gutmütig.
Er war zweifellos ein guter Junge, und Ljewin bedauerte ihn und schämte sich als Wirt, da er die Schüchternheit in Wasenkas Blick bemerkte.
Auf dem Tische lag das Bruchstück eines Stockes, den sie an diesem Vormittag gemeinschaftlich beim Turnen zerbrochen hatten, als sie den Versuch machten, die verquollenen Barrenholme zu heben. Ljewin nahm dieses Bruchstück in die Hände und begann von dem zersplitterten Ende die einzelnen Splitter abzureißen, da er nicht wußte, womit er bei dem, was er sagen wollte, den Anfang machen solle.
»Ich wollte ...« Er stockte; aber plötzlich dachte er an Kitty und an alles, was sich begeben hatte, blickte ihm mit festem Entschluß in die Augen und sagte: »Ich habe für Sie einen Wagen anspannen lassen.«
»Wieso?« fragte Wasenka verwundert. »Wohin geht denn die Fahrt?«
»Sie sollen wegfahren, nach der Bahn«, antwortete Ljewin finster und zerzupfte das Ende des Stockes.
»Reisen Sie weg, oder hat sich etwas begeben?«
»Ich habe Nachricht erhalten, daß ich noch mehr Gäste zu erwarten habe«, erwiderte Ljewin und riß immer schneller und schneller mit seinen starken Fingern die Splitter von dem zerfaserten Stock ab. »Oder auch, ich erwarte gar keine Gäste und habe keine Nachricht erhalten; aber ich ersuche Sie abzureisen. Sie mögen sich meine Unhöflichkeit erklären, wie Sie wollen.«
Wasenka richtete sich gerade.
»Ich ersuche vielmehr Sie, mir zu erklären ...«, sagte er mit Würde, nachdem er endlich verstanden hatte.
»Ich kann Ihnen keine Erklärung geben«, versetzte Ljewin leise und langsam, bemüht, das Zittern seiner Kinnbacken zu verbergen. »Und es ist auch besser für Sie, nicht danach zu fragen.«
Und da nun Ljewin die losgesplitterten Stücke des Stockes bereits sämtlich abgebrochen hatte, so faßte er mit den Fingern die beiden dicken Stücke, riß den Stock der Länge nach auseinander und fing das eine Stück, das herunterfiel, sorgsam auf.
Der Anblick dieser angespannten Arme und starken Muskeln, die er am Vormittag beim Turnen befühlt hatte, die blitzenden Augen und bebenden Kinnbacken und der Klang dieser mühsam gedämpften Stimme hatten wahrscheinlich für Wasenka eine größere Überzeugungskraft als die
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