Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
zu befreien, die sie beide ausstanden.
»So können wir nicht weiterleben! Das ist eine Qual! Ich leide unerträglich und du auch. Und weswegen?« sagte sie, als sie endlich eine einsame Bank an einer Biegung der Lindenallee erreicht hatten.
»Sage mir nur das eine: lag in seinem Ton etwas Unanständiges, etwas Unreines, eine entsetzliche Beleidigung?« fragte er, indem er wieder vor sie in derselben Haltung, mit den Fäusten vor der Brust, hintrat, wie er kürzlich in der Nacht vor ihr gestanden hatte.
»Ja, es lag so etwas darin«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Aber, Konstantin, siehst du denn nicht, daß ich keine Schuld trage? Ich wollte heute morgen gleich von Anfang an einen ablehnenden Ton anschlagen, aber solche Menschen ... Warum ist er hergekommen? Wie glücklich waren wir!« sagte sie; ein Schluchzen, das ihren ganzen, voller gewordenen Körper erschütterte, hinderte sie, weiterzusprechen.
Der Gartenarbeiter sah mit Verwunderung, wie sie, obwohl niemand sie verfolgt hatte und nichts dagewesen war, wovor sie hätten zu flüchten brauchen, und obwohl sie auch nichts besonders Erfreuliches auf dem Bänkchen gefunden haben konnten – der Gartenarbeiter sah, wie sie nun an ihm vorüber mit beruhigten, strahlenden Gesichtern zum Hause zurückkehrten.
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1 (frz.) Treten Sie ein!
15
N achdem Ljewin seine Frau hinaufbegleitet hatte, begab er sich nach den von Dolly bewohnten Räumen. Diese hatte heute einen recht aufregenden Tag. Sie ging im Zimmer auf und ab und sprach zornig zu ihrem Töchterchen Mascha, das in einer Ecke stand und heulte.
»Den ganzen Tag sollst du in der Ecke stehen, und dein Mittagessen sollst du allein essen, und nicht eine einzige Puppe sollst du heute zu sehen bekommen, und ein neues Kleid mache ich dir auch nicht«, sagte sie; sie wußte selbst nicht, womit sie sie noch weiter bestrafen sollte.
»Nein, welch ein garstiges Kind das ist!« wandte sie sich zu Ljewin. »Wo sie nur diese häßlichen Neigungen her hat?«
»Was hat sie denn getan?« fragte in ziemlich gleichgültigem Tone Ljewin, der über seine eigene Angelegenheit mit Dolly hatte sprechen wollen und sich nun darüber ärgerte, daß er so zur Unzeit gekommen war.
»Sie war mit Grigori in die Himbeeren gegangen, und da ... nein, ich kann es gar nicht sagen, was sie da getan hat. Tausendmal habe ich schon bedauert, daß Miß Hull nicht mehr da ist. Diese paßt auf nichts auf, die reine Maschine ... Figurez vous, que la petite ... 1 «
Darja Alexandrowna berichtete über Maschas Verbrechen.
»Daraus folgt noch weiter nichts; das sind ganz und gar keine häßlichen Neigungen; das ist einfach Mutwille«, suchte Ljewin sie zu beruhigen.
»Aber auch du bist verstimmt? Was hat dich denn hergeführt?« fragte Dolly. »Ist bei euch im Wohnzimmer etwas los?«
Aus dem Tone dieser Frage schöpfte Ljewin die Überzeugung, daß es ihm nicht schwer werden würde, das zu sagen, was er zu sagen beabsichtigte.
»Ich bin nicht dort gewesen; ich war mit Kitty allein im Garten. Wir waren zum zweiten Male miteinander böse, seit ... seit Stiwa gekommen ist.«
Dolly sah ihn mit klugen, verständnisvollen Augen an.
»Nun sage mir, Hand aufs Herz; hat etwa ... ich meine nicht Kitty ... sondern hat etwa dieser Herr sich eines Tones bedient, in dem man etwas für den Ehemann Unangenehmes ... nein, nicht etwas Unangenehmes, sondern etwas Furchtbares, Beleidigendes finden kann?«
»Ja nun, wie soll ich dir darauf antworten ... Du bleibst in der Ecke stehen, ganz still!« wandte sie sich an Mascha, die, sobald sie auf dem Gesicht ihrer Mutter ein ganz leises Lächeln wahrgenommen hatte, einen Versuch gemacht hatte, sich umzudrehen. »Die Meinung unserer Gesellschaftskreise würde sein, daß er sich benimmt, wie sich alle jungen Männer benehmen. Il fait la cour à une jeune et jolie femme 2 , und ein Ehemann, der die Ansicht dieser Gesellschaftskreise teilt, kann sich dadurch nur geschmeichelt fühlen.«
»Ja, ja«, erwiderte Ljewin finster, »aber bemerkt hast du es?«
»Nicht nur ich, sondern auch Stiwa hat es bemerkt. Er hat nach dem Tee geradezu zu mir gesagt: je crois que Weslowski fait un petit brin de cour à Kitty. 3 «
»Nun schön, jetzt bin ich beruhigt. Ich werde ihn aus dem Hause werfen«, antwortete Ljewin.
»Was redest du? Bist du von Sinnen?« rief Dolly erschrocken. »Was redest du, Konstantin? So komm doch zur
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