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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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darf. Und dafür so viele Qualen und Mühen! ... Darum das ganze Leben verdorben!‹ Sie mußte wieder an das denken, was die junge Bäuerin gesagt hatte, und wieder war ihr die Erinnerung daran widerwärtig; aber sie konnte nicht umhin zuzugeben, daß in diesen Worten doch auch ein gut Teil derber Wahrheit steckte.
     
    »Nun? Ist es noch weit, Michail?« fragte Darja Alexandrowna den Gutsschreiber, um von den Gedanken, die sie ängstigten, loszukommen.
     
    »Von diesem Dorfe sollen es noch sieben Werst sein.«
     
    Der Kaleschwagen fuhr auf der Dorfstraße zu einer kleinen Brücke hinunter. Über die Brücke kam gerade in lautem, lustigem Gespräch ein Haufe fröhlicher Bauersfrauen, jede mit einem Bündel zusammengedrehter Garbenbänder über den Schultern. Die Frauen blieben auf der Brücke stehen und betrachteten neugierig den Wagen. Darja Alexandrowna hatte die Empfindung, daß alle diese ihr zugewandten Gesichter gesund und froh seien und sie durch ihre Lebensfreudigkeit verhöhnen wollten. ›Alle leben sie, alle freuen sie sich des Lebens‹, dachte sie, während sie an den Frauen vorüber, dann auf der andern Seite der Brücke die Anhöhe hinanfuhr und nun wieder auf ebenem Wege im Trabe angenehm von den weichen Federn der alten Kalesche geschaukelt wurde; ›aber ich bin aus meiner Welt, die mich mit Sorgen ertötet, jetzt eben erst für einen Augenblick wie aus einem Gefängnis entlassen und ein wenig zur Besinnung gekommen. Alle leben sie: diese Frauen, und meine Schwester Natalja, und Warjenka, und Anna, zu der ich hinfahre: nur ich nicht.‹
     
    ›Freilich, über Anna fallen alle Leute her. Warum denn? Bin ich etwa besser als sie? Allerdings, ich habe wenigstens einen Gatten, den ich liebe; und wenn ich ihn auch nicht so liebe, wie ich ihn lieben möchte, so liebe ich ihn doch; aber Anna hat ihren Mann nicht geliebt. Worin besteht denn ihre Schuld? Sie will leben. Dieses Verlangen hat uns Gott in die Seele hineingelegt. Sehr möglich, daß auch ich in gleicher Lage dasselbe getan hätte. Auch ich weiß bis auf den heutigen Tag noch nicht, ob ich gut daran getan habe, in jener schrecklichen Zeit auf sie zu hören, als sie zu mir nach Moskau gekommen war. Ich hätte damals meinen Mann verlassen und ganz von vorn zu leben anfangen sollen. Ich hätte wahrhaft lieben und wahrhaft geliebt werden können. Und ist meine Lage etwa jetzt besser geworden? Ich achte ihn nicht. Ich habe ihn nötig‹, dachte sie über ihren Mann, ›und ich ertrage ihn. Ist etwa nun meine Lage eine bessere? Damals hätte ich noch jemandem gefallen können, ich besaß noch meine Schönheit‹, setzte Darja Alexandrowna ihre Gedankenreihe fort und bekam Lust, sich im Spiegel zu sehen. Sie hatte in ihrer Reisetasche einen kleinen Spiegel bei sich und hätte ihn gern herausgeholt; als sie aber auf den Rücken des Kutschers und auf den Rücken des hin und her schaukelnden Gutsschreibers blickte, sagte sie sich, daß sie sich schämen würde, wenn sich einer von ihnen umsähe, und sie holte den Spiegel nicht heraus.
     
    Aber auch ohne in den Spiegel zu blicken, war sie der Meinung, es sei wohl auch jetzt noch nicht zu spät; und sie erinnerte sich an Sergei Iwanowitsch, der gegen sie besonders liebenswürdig gewesen war, und an Stiwas Freund, den braven Turowzün, der mit ihr zusammen ihre im Scharlachfieber liegenden Kinder gepflegt hatte und in sie verliebt gewesen war. Und da war noch ein ganz junger Mann, der, wie Stiwa scherzend zu ihr gesagt hatte, der Ansicht war, daß sie schöner sei als ihre beiden Schwestern. Und die leidenschaftlichsten, unmöglichsten Liebesgeschichten erstanden vor Darja Alexandrownas Phantasie. ›Anna hat ganz recht getan, und ich kann sie in keiner Weise tadeln. Sie ist glücklich und macht einen andern glücklich und ist nicht zerschlagen und gebrochen wie ich, sondern gewiß noch ebenso frisch und verständig und für alle Eindrücke empfänglich wie immer‹, dachte Darja Alexandrowna, und ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen, namentlich weil sie bei dem Gedanken an Annas Liebschaft sich als Gegenstück dazu eine ganz ähnliche eigene Liebschaft vorspiegelte, eine Liebschaft mit einem eingebildeten männlichen Wesen, das in sie verliebt sei, so einer Art von Sammelbegriff. Sie gestand, ebenso wie Anna, alles ihrem Manne. Und sie mußte über Stepan Arkadjewitschs Staunen und Bestürzung bei dieser Nachricht lächeln.
     
    Unter solchen Phantasien näherte sie sich der Wegscheide, wo

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