Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Trotz aller Vornehmheit lag in Annas Haltung, Kleidung und Bewegungen eine solche Einfachheit, Ruhe und Würde, daß sich nichts Natürlicheres denken ließ.
Neben Anna ritt auf einem grauen, erhitzten Kavalleriepferde, die dicken Beine nach vorn gestreckt und offenbar sehr stolz auf seine Erscheinung, Wasenka Weslowski, auf dem Kopf die schottische Mütze mit den flatternden Bändern, und Darja Alexandrowna konnte, als sie ihn erkannte, ein heiteres Lächeln nicht unterdrücken. Hinter ihnen ritt Wronski. Unter sich hatte er ein dunkelbraunes Vollblut, das offenbar bei dem Galopp sehr in Hitze geraten war. Er arbeitete mit den Zügeln, um das Tier zurückzuhalten.
Hinter ihm ritt ein Mann von sehr kleiner Gestalt in Jockeitracht. Swijaschski und die Prinzessin kamen in einem nagelneuen leichten Wagen mit einem stattlichen schwarzen Traber hinter den Reitern her.
Sobald Anna in der kleinen Gestalt, die in einer Ecke der alten Kalesche lehnte, Dolly erkannte, strahlte plötzlich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesichte auf. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, zuckte auf ihrem Sattel zusammen und trieb das Pferd zum Galopp an. Als sie an den Kutschwagen herangekommen war, sprang sie ohne Hilfe ab und lief, ihr Reitkleid aufraffend, zu Dolly. »Das hatte ich mir doch gedacht, daß du einmal kommen würdest, und hatte doch auch wieder nicht gewagt, es zu hoffen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue!« sagte sie, indem sie bald ihr Gesicht gegen das Gesicht Dollys drückte und sie küßte, bald sich wieder zurückbog und sie betrachtete. »Das ist einmal eine Freude, Alexei!« rief sie, sich nach Wronski zurückwendend, der vom Pferde gestiegen war und sich den beiden Damen näherte.
Wronski nahm seinen hohen grauen Hut ab und trat zu Dolly.
»Sie können gar nicht glauben, wie sehr wir uns über Ihren Besuch freuen«, sagte er, indem er diesen Worten einen besonders nachdrücklichen, herzlichen Ton verlieh und lächelnd seine kräftigen, weißen Zähne sichtbar werden ließ.
Wasenka Weslowski begrüßte, ohne vom Pferde zu steigen, die Besucherin dadurch, daß er seine bebänderte Mütze abnahm und freudig über dem Kopfe schwenkte.
»Das ist die Prinzessin Warwara«, antwortete Anna auf einen fragenden Blick Dollys, als der leichte Wagen sich näherte.
»Ah!« machte Darja Alexandrowna, und ihr Gesicht drückte unwillkürlich ihr Mißvergnügen aus.
Die Prinzessin Warwara war Stiwas Tante, und Dolly kannte sie schon lange, ohne jedoch besondere Hochachtung vor ihr zu hegen. Sie wußte, daß die Prinzessin Warwara von ihrer Jugend an bei reichen Verwandten von deren Gnade gelebt hatte; aber daß sie jetzt bei dem ihr fremden Wronski lebte, fand Dolly unwürdig, und sie schämte sich für die Verwandtschaft ihres Mannes. Anna bemerkte Dollys Gesichtsausdruck sehr wohl; sie wurde verlegen, errötete, ließ ihr Reitkleid aus der Hand fallen und strauchelte darüber.
Darja Alexandrowna trat an den leichten Wagen heran, der angehalten hatte, und begrüßte kühl die Prinzessin Warwara. Swijaschski war ihr gleichfalls bekannt. Er erkundigte sich, wie es seinem Freunde, diesem sonderbaren Kauz, und seiner jungen Frau gehe, und nachdem er mit einem schnellen Blick die wenig zueinander passenden Pferde und die geflickten Kotflügel der Kutsche gemustert hatte, machte er den Vorschlag, die Damen möchten in dem leichten Wagen fahren.
»Ich fahre dann in diesem Vehikel«, sagte er, auf die Kutsche weisend. »Der Traber ist ein sehr ruhiges Tier, und die Prinzessin kutschiert meisterhaft.«
»Nein, nein, bleiben Sie nur ruhig, wo Sie gewesen sind«, sagte Anna, die herantrat, »und wir beide fahren in dem Kutschwagen.« Sie faßte Dolly unter dem Arm und führte sie fort.
Darja Alexandrownas Augen wanderten hierhin und dorthin: zu diesem vornehmen Fuhrwerk, wie sie noch nie eines gesehen hatte, zu diesen prächtigen Pferden, zu diesen eleganten, vornehmen Gestalten, die sie umgaben. Aber am allermeisten war sie von der Veränderung überrascht, die mit der ihr so vertrauten, lieben Anna vorgegangen war. Eine andere Frau, die eine geringere Beobachtungsgabe besessen und Anna früher nicht gekannt hätte und namentlich sich nicht mit den Gedanken beschäftigt hätte, denen Darja Alexandrowna sich unterwegs überlassen hatte, würde an Anna überhaupt nichts Besonderes wahrgenommen haben. Aber jetzt war Dolly überrascht von jener zeitweiligen
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