Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
französisch, und begrüßte dann, ohne die Antwort abzuwarten, noch einmal Darja Alexandrowna, jetzt mit einem Handkuß. »Ich denke, im großen Balkonzimmer?«
»Ach nein! Das ist gar zu abgelegen! Lieber im Eckzimmer; dann sehen wir uns häufiger. Nun, dann komm!« sagte Anna, nachdem sie ihrem Lieblingspferde den Zucker gegeben hatte, den ihr einer der Diener herausgebracht hatte.
»Et vous oubliez votre devoir« 1 , wandte sie sich an Weslowski, der gleichfalls vor das Tor herausgetreten war.
»Pardon, j'en ai tout plein les poches« 2 , erwiderte er lächelnd, indem er die Finger in die Westentasche steckte.
»Mais vous venez trop tard« 3 , versetzte sie und wischte sich mit dem Taschentuch die Hand ab, die ihr das Pferd, als es den Zucker nahm, feucht gemacht hatte.
Anna wandte sich an Dolly: »Bleibst du lange hier? Nur einen Tag? Das ist unmöglich!«
»Ich habe es so versprochen, und die Kinder ...«, antwortete Dolly, die sehr verlegen war, weil sie ihre bescheidene Reisetasche aus dem Kutschwagen nehmen mußte und weil sie wußte, daß ihr Gesicht jedenfalls sehr bestaubt aussah.
»Nein, nein, Dolly, mein Herzchen ... Nun, wir werden ja sehen. Komm, komm!« Und Anna führte Dolly nach dem Zimmer, wo sie wohnen sollte.
Es war nicht das Prunkzimmer, das Wronski in Vorschlag gebracht hatte, sondern eines, für das Anna ihre Freundin erst ausdrücklich um Entschuldigung bat. Aber auch dieses Zimmer war mit einer Verschwendung ausgestattet, wie Dolly sie weder in ihrem Elternhause noch in ihrem eigenen Heim jemals um sich gehabt hatte und die sie an die besten ausländischen Hotels erinnerte.
»Ach, mein Herzchen, wie glücklich ich bin!« sagte Anna, die sich auf einen Augenblick in ihrem Reitkleide neben Dolly gesetzt hatte. »Erzähle mir von deinen Kindern. Stiwa habe ich flüchtig gesehen; aber der versteht nicht von Kindern zu erzählen. Was macht mein Liebling Tanja? Sie ist wohl schon ein großes Mädchen, denke ich.«
»Ja, recht groß«, antwortete Darja Alexandrowna kurz und wunderte sich selbst darüber, daß sie so kühl über ihre Kinder Auskunft gab. »Wir leben sehr hübsch bei Ljewins«, fügte sie hinzu.
»Ja, wenn ich gewußt hätte, daß du mich nicht verachtest ...«, sagte Anna. »Ihr solltet alle zu uns herkommen. Stiwa ist ja ein alter guter Freund von Alexei«, fuhr sie fort und errötete plötzlich.
»Ja, aber wir fühlen uns da so wohl ...«, antwortete Dolly verlegen.
»Freilich, ich rede vor Freude dummes Zeug. Aber ich muß immer wieder sagen, mein Herzchen: wie freue ich mich über deinen Besuch!« sagte Anna und küßte sie noch einmal. »Du hast mir noch nicht gesagt, wie und was du über mich denkst; aber ich will alles wissen. Ich freue mich aber, daß du mich siehst, wie ich wirklich bin. Vor allen Dingen möchte ich nicht, daß die Leute dächten, ich wollte irgend etwas beweisen. Ich will gar nichts beweisen; ich will einfach nur leben, will niemandem Übles tun als mir selbst. Das ist doch mein Recht, nicht wahr? Aber das ist ein Punkt, über den sich viel sagen läßt, und wir wollen über das alles noch in Ruhe miteinander reden. Jetzt gehe ich mich umkleiden und werde dir das Mädchen schicken.«
----
1 (frz.) Und Sie vergessen Ihre Pflicht.
2 (frz.) Verzeihung, meine Taschen sind bis oben hin voll davon.
3 (frz.) Aber Sie kommen zu spät.
19
A ls Darja Alexandrowna allein geblieben war, musterte sie mit dem Kennerblick der Hausfrau ihr Zimmer. Alles, was sie beim Vorfahren am Haus und im Hause selbst gesehen hatte und jetzt in ihrem Zimmer sah, machte ihr den Eindruck jenes modernen europäischen Prunkes und Luxus, von dem sie nur in englischen Romanen gelesen, den sie aber noch nie in Rußland und nun gar auf dem Lande gesehen hatte. Alles war hier modern, von den modernen französischen Tapeten bis zum Teppich, der den ganzen Fußboden bedeckte. Das Bett enthielt eine Sprungfedermatratze und ein besonderes Keilkissen; die kleinen Kopfkissen waren mit schwerseidenen Bezügen versehen. Der marmorne Waschtisch, der Frisiertisch, das Ruhebett, die Tischchen, die Bronze-Uhr auf dem Kamin, die Gardinen und Türvorhänge, alles war modern und kostbar.
Die kokette Zofe, die hereinkam, um ihre Dienste anzubieten, trug sich in Frisur und Kleidung moderner als Dolly und sah überhaupt ebenso modern und vornehm aus wie das ganze Zimmer. Darja Alexandrowna fühlte sich angenehm
Weitere Kostenlose Bücher