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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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sehr hoch und hell.
     
    Als sie eintraten, saß die Kleine im bloßen Hemdkleidchen auf einem Sesselchen am Tische und nahm ihr aus einer Suppe bestehendes Mittagsmahl ein, womit sie sich ihre ganze kleine Brust begossen hatte. Ein russisches Mädchen, das für die Kinderstube angestellt war, fütterte die Kleine und aß offenbar selbst mit ihr zusammen. Weder die italienische Amme noch die englische Wärterin waren anwesend; sie befanden sich im anstoßenden Zimmer, und daher hörte man ihr Gespräch, das in einem seltsamen Französisch geführt wurde, die einzige Art, wie sie sich miteinander verständigen konnten.
     
    Als sie Annas Stimme hörte, trat die Engländerin, eine vornehm gekleidete große Person mit einem unangenehmen Gesicht und wenig vertrauenerweckendem Ausdruck, hastig ihre blonden Locken zurückschüttelnd, in die Tür und begann sich sogleich zu entschuldigen, obwohl ihr Anna gar keinen Vorwurf gemacht hatte. Auf jede Bemerkung Annas antwortete sie eilig ein paarmal hintereinander: »Yes, Mylady.«
     
    Das kleine Mädchen mit seinen schwarzen Augenbrauen und dem dunklen Haar, seiner gesunden Gesichtsfarbe und seinem kräftigen Körperchen mit der rosigen Haut gefiel Darja Alexandrowna sehr, trotz der finsteren Miene, mit der es das ihm neue Gesicht betrachtete; das gesunde Aussehen des Kindes erregte sogar ihren Neid. Auch die Art, wie es kroch, fand Darja Alexandrownas Beifall. Keines ihrer Kinder war so gekrochen. Diese Kleine bot, als sie auf den Teppich gesetzt und ihr hinten das Kleidchen aufgeschürzt war, einen allerliebsten Anblick. Mit ihren glänzenden, schwarzen Augen blickte sie wie ein kleines Tierchen die Erwachsenen an, lächelte und war offenbar über die ihr zuteil werdende Bewunderung erfreut; dann hielt sie die Beine seitwärts, stemmte sich energisch auf die Arme, zog ihren ganzen Hinterkörper flink heran und griff hierauf wieder mit den Ärmchen nach vorn aus.
     
    Aber der allgemeine Ton in der Kinderstube und namentlich die Engländerin erregten Darja Alexandrownas starkes Mißfallen. Nur daraus, daß in eine so gesetzwidrige Familie wie die Annas eine wirklich gute englische Wärterin wohl nicht eingetreten wäre, vermochte Darja Alexandrowna es sich zu erklären, daß Anna bei ihrer Menschenkenntnis eine so unsympathische, wenig ansehnliche Engländerin für ihr Töchterchen hatte nehmen können. Außerdem merkte Darja Alexandrowna sogleich nach ein paar Worten, daß Anna, die Amme, die Wärterin und das Kind keine rechte Fühlung miteinander hatten und daß der Besuch der Mutter hier etwas Ungewöhnliches war. Anna wollte der Kleinen ein bestimmtes Spielzeug reichen, konnte es aber nicht finden.
     
    Das Erstaunlichste aber war, daß Anna bei der Frage, wieviel Zähne die Kleine schon habe, sich irrte und von den beiden letzten Zähnen gar nichts wußte.
     
    »Es ist mir manchmal recht schmerzlich, daß ich hier sozusagen überflüssig bin«, sagte sie, als sie mit Dolly aus dem Kinderzimmer wieder hinausging und ihre Schleppe in die Höhe hob, um an den Spielsachen, die bei der Tür lagen, vorbeizukommen. »Bei dem ersten Kinde war das anders.«
     
    »Ich dachte, im Gegenteil«, erwiderte Darja Alexandrowna schüchtern.
     
    »O nein! Du weißt wohl, ich habe ihn wiedergesehen, meinen Sergei«, sagte Anna und kniff die Augen zu, als ob sie nach etwas weit Entferntem blickte. »Indessen, davon reden wir später noch. Du glaubst gar nicht, es geht mir wie einem Hungernden, dem auf einmal ein reiches Mahl vorgesetzt wird und der nun nicht weiß, wonach er zuerst greifen soll. Das reiche Mahl, das bist du und die Gespräche, die ich mit dir zu führen gedenke und die ich bisher mit niemand führen konnte; und da weiß ich gar nicht, welches Gespräch ich zuerst in Angriff nehmen soll. Mais je ne vous ferai grâce de rien. 2 Ich habe ein Bedürfnis, alles auszusprechen. Ja, ich muß dir doch zunächst eine Skizze der Gesellschaft entwerfen, die du bei uns vorfindest«, begann sie. »Ich fange mit den Damen an. Da ist die Prinzessin Warwara. Du kennst sie, und ich weiß, wie ihr beide, du und Stiwa, über sie denkt. Stiwa sagt immer, Warwaras ganzer Lebenszweck bestehe darin, nachzuweisen, daß sie besser sei als Tante Katerina Pawlowna; das ist ganz richtig; aber sie hat ein gutes Herz, und ich bin ihr sehr dankbar. In Petersburg gab es eine Zeit, wo ich notwendig eine Dame der Gesellschaft zur Freundin haben mußte. Da war sie zur Stelle. Aber sie hat wirklich ein

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