Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
fahren.
Vor den Wahlen kam Swijaschski, der überhaupt häufig in Wosdwischenskoje zu Besuch war, zu Wronski, um ihn abzuholen.
Am Tage vorher wäre es zwischen Wronski und Anna wegen dieser beabsichtigten Reise beinahe zu einem Streite gekommen. Es war der langweiligste, verdrießlichste Teil der Herbstzeit auf dem Lande, und so erklärte denn Wronski, auf einen Kampf gefaßt, ihr in einem strengen, kalten Tone, wie er ihn noch nie vorher Anna gegenüber angewendet hatte, daß er am nächsten Tage abreisen werde. Aber zu seiner Verwunderung nahm Anna diese Nachricht sehr ruhig auf und fragte nur, wann er zurückkommen werde. Er blickte sie forschend an, da ihm ihre Ruhe unverständlich war. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln. Er kannte an ihr diese Fähigkeit, sich in ihr Inneres zurückzuziehen, und wußte, daß sie das nur dann tat, wenn sie sich im stillen zu etwas entschlossen hatte und ihm ihre Pläne nicht mitteilen wollte. Er fürchtete, daß es auch diesmal so wäre; aber es lag ihm so sehr daran, einer Szene zu entgehen, daß er sich stellte, als sei er davon überzeugt, daß sie die Sache verständig auffasse; und zum Teil glaubte er das, was er wünschte, auch wirklich.
»Du wirst dich hoffentlich nicht langweilen?«
»Ich hoffe, nein«, erwiderte Anna. »Ich habe gestern eine Kiste Bücher von Gautier bekommen. Nein, ich werde mich schon nicht langweilen.«
›Wenn sie diesen Ton annehmen will, nun, um so besser‹, dachte er. ›Sonst wäre es ja doch immer wieder die alte Leier.‹
So reiste er denn, ohne sie zu einer offenen Aussprache veranlaßt zu haben, zu den Wahlen. Es war dies, seit sie einander näher kannten, das erstemal, daß er sich von ihr trennte, ohne sich vollständig mit ihr ausgesprochen zu haben. Einerseits beunruhigte ihn dies, anderseits fand er, daß es so schließlich doch besser sei. ›Die ersten Male wird sie, so wie diesmal, die Empfindung haben, daß es zwischen uns an Klarheit und Offenheit fehlt; aber nachher wird sie sich schon daran gewöhnen. Jedenfalls kann ich alles um ihretwillen aufgeben, alles, aber nicht meine männliche Unabhängigkeit‹, dachte er.
26
I m September war Ljewin wegen Kittys bevorstehender Entbindung nach Moskau übergesiedelt. Er hatte schon einen ganzen Monat ohne Beschäftigung in Moskau zugebracht, als Sergei Iwanowitsch, der ein Gut im Gouvernement Kaschin besaß, sich anschickte, zu den Wahlen zu fahren, die ihm sehr am Herzen lagen. Er forderte auch seinen Bruder zum Mitkommen auf, der wegen seines im Kreise Selesnjew gelegenen Besitzes wahlberechtigt war. Außerdem hatte Ljewin in Kaschin für seine im Auslande lebende Schwester zwei höchst wichtige Angelegenheiten zu erledigen, bei denen es sich um eine Vormundschaftssache und um den Empfang von Einstandsgeldern handelte.
Ljewin war immer noch unentschlossen; aber Kitty, der es nicht entgangen war, daß er sich in Moskau langweilte, und die ihm von vornherein zugeredet hatte hinzufahren, hatte ihm ohne sein Wissen eine Adelsuniform machen lassen, die achtzig Rubel kostete. Und diese für die Uniform ausgegebenen achtzig Rubel wurden nun der Hauptgrund, der Ljewin zu der Reise bewog. Er fuhr nach Kaschin.
Er war nun schon seit sechs Tagen in Kaschin, besuchte täglich die Versammlungen und bemühte sich in den Angelegenheiten seiner Schwester, die durchaus nicht in Ordnung kommen wollten. Die Adelsmarschälle waren sämtlich durch die Wahlen in Anspruch genommen, und es war schlechterdings unmöglich, die Erledigung der sehr einfachen Angelegenheit zu erreichen, die vom Vormundschaftsamte abhing. Die andere Angelegenheit, der Empfang einer Geldsumme, stieß gleichfalls auf Hindernisse. Nachdem lange Bemühungen um die Aufhebung der Zwangsverwaltung vorausgegangen waren, sollte nun eigentlich das Geld zur Abholung bereit sein; aber der Rechtsbeistand, ein höchst dienstfertiger Mann, konnte die erforderliche Anweisung nicht ausstellen, weil dazu die Unterschrift des Präsidenten nötig war und der Präsident, ohne jemand mit seiner Vertretung beauftragt zu haben, sich in der Sitzung befand. Alle diese Plackereien, die Lauferei bald hierhin, bald dorthin, die Unterhandlungen mit sehr guten, braven Menschen, die für die unangenehme Lage des Antragstellers volles Verständnis hatten, aber nicht imstande waren, ihm zu helfen, diese ganze Anstrengung, die völlig ergebnislos blieb: alles das brachte bei Ljewin eine qualvolle
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