Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Empfindung hervor, ähnlich dem beängstigenden Ohnmachtsgefühl im Traume, wenn man vergeblich wünscht, von seiner körperlichen Kraft Gebrauch zu machen. Er hatte diese Empfindung häufig bei den Unterredungen mit seinem Sachwalter, einem überaus gutherzigen Manne. Dieser Sachwalter tat allem Anschein nach, was nur irgend möglich war, und strengte alle seine Geisteskräfte an, um dem armen Ljewin aus der Schwierigkeit herauszuhelfen. »Wissen Sie, was Sie versuchen sollten?« sagte er ihm wiederholt. »Gehen Sie doch einmal da und da hin!« Und nun entwickelte er einen umständlichen Plan, wie Ljewin den verhängnisvollen Umstand, durch den alles gehindert wurde, umgehen könne. »Aber«, fügte er sofort hinzu: »es wird wohl doch hapern; indessen, versuchen Sie es!« Und Ljewin versuchte es und scheute keine Gänge und Fahrten. Alle Leute waren gegen ihn freundlich und liebenswürdig; aber das Ergebnis war jedesmal, daß das, was er umgehen wollte, am Ende doch wieder als Hindernis vor ihm stand und den Weg versperrte. Ganz besonders verdrießlich war Ljewin darüber, daß er schlechterdings nicht herausbekommen konnte, mit wem er eigentlich kämpfte und wer einen Vorteil davon hätte, daß seine Angelegenheit nicht zum Abschluß käme. Und das schien niemand zu wissen; auch der Sachwalter wußte es nicht. Hätte Ljewin dies ebensowohl verstanden, wie er den Grund verstand, weshalb man zum Eisenbahnschalter nur gelangt, indem man Schlange steht, so hätte er sich nicht gekränkt gefühlt und sich nicht geärgert; aber über die Hindernisse, auf die er hier bei seiner Angelegenheit stieß, konnte ihm niemand Aufklärung geben, niemand wußte, wozu die eigentlich auf der Welt waren.
Ljewin hatte sich jedoch seit seiner Verheiratung sehr geändert, er hatte Geduld gelernt; und wenn er nicht begriff, wozu alles dies so eingerichtet war, so sagte er sich, er dürfe, ohne das Ganze zu kennen, sich kein Urteil erlauben, und es werde doch wohl so sein müssen; und so bemühte er sich denn, sich nicht darüber aufzuregen.
Jetzt nun, wo er bei den Wahlen anwesend war und sich an ihnen beteiligte, gab er sich ebenfalls alle Mühe, nicht vorschnell zu tadeln und sich nicht mit andern zu streiten, sondern nach Möglichkeit sich Einsicht in diese Sache zu verschaffen, bei der ehrenwerte, brave Männer, die auch er hochachtete, mit solchem Ernst und Eifer tätig waren. Seit Ljewin sich verheiratet hatte, hatten sich ihm so viele neue, ernste Gebiete des Lebens erschlossen, die ihm vorher infolge seines nur oberflächlichen Verhältnisses zu ihnen unwichtig erschienen waren, daß er auch von den Wahlen annahm, sie würden wohl eine ernste Bedeutung haben, und diese ernste Bedeutung zu erkennen suchte.
Sergei Iwanowitsch klärte ihn über das Wesen und die Bedeutsamkeit des Umschwunges auf, den man bei diesen Wahlen herbeizuführen hoffte. Der Gouvernements-Adelsmarschall, in dessen Händen dem Gesetze gemäß so viele hochwichtige Verwaltungsangelegenheiten lagen: die Vormundschaftssachen (gerade in einer solchen hatte Ljewin jetzt soviel Pein auszustehen) und die gewaltigen Summen der Adelsgelder und das Mädchengymnasium, das Knabengymnasium, die Militärschule sowie der Volksschulunterricht nach der neuen Ordnung und schließlich die Kreistage – der Gouvernements-Adelsmarschall Snetkow war ein Vertreter der alten Art von Adligen: er hatte ein riesiges Vermögen durchgebracht, war ein gutmütiger, in seiner Art ehrenhafter Mann, besaß aber durchaus kein Verständnis für die Bedürfnisse der Neuzeit. Immer und in allen Dingen stellte er sich auf die Seite des Adels; er widersetzte sich geradezu der Verbreitung der Volksbildung und suchte dem Kreistage, der doch eine so gewaltige Bedeutung haben soll, einen ständischen Charakter zu geben. Man mußte daher an seine Stelle einen frischen, fortschrittlichen, tüchtigen, durchaus neuzeitlich denkenden Mann setzen und darauf hinwirken, daß aus all den Rechten, die dem Adel nicht als solchem, sondern als einem Bestandteile des Kreistages verliehen waren, für die Selbstverwaltung soviel Vorteil wie nur irgend möglich gezogen würde. In dem reichen Gouvernement Kaschin, das immer und in allen Dingen den anderen voraus war, hatten sich jetzt solche geistige Kräfte zusammengefunden, daß dieses Werk, wenn es hier richtig durchgeführt wurde, für die andern Kreise, ja für ganz Rußland als Vorbild dienen konnte. Und darum hatte die ganze Sache eine
Weitere Kostenlose Bücher