Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Scheidung. Erstens wird er sie mir nicht gewähren. Er steht jetzt unter dem Einflusse der Gräfin Lydia Iwanowna.«
Darja Alexandrowna saß, gerade aufgerichtet, auf einem Stuhl und folgte, den Kopf hin und her wendend, mit mitleidigen Blicken der auf und ab gehen den Anna.
»Du solltest es aber doch versuchen«, sagte sie leise.
»Sagen wir also, ich versuche es. Was bedeutet das?« Anna sprach damit offenbar einen Gedanken aus, den sie schon tausendmal durchdacht hatte und auswendig konnte. »Das bedeutet, daß ich, die ich ihn hasse und mich dabei doch vor ihm schuldig bekenne, die Demütigung auf mich nehme, an ihn zu schreiben ... Nun, sagen wir, ich gewinne es über mich und tue es. Entweder erhalte ich dann eine kränkende Antwort oder seine Einwilligung. Gut, ich habe also seine Einwilligung erhalten ...« Anna befand sich in diesem Augenblick am fernsten Ende des Zimmers, war dort stehengeblieben und nahm irgend etwas mit dem Fenstervorhang vor. »Ich erhalte seine Einwilligung; – und mein Sohn? ... Den werden sie mir ja sicherlich nicht überlassen. Der wird bei seinem Vater, den ich verlassen habe, aufwachsen und wird mich verachten lernen. Mach dir das nur klar, daß ich zwei Menschen liebe, ich glaube, beide gleich stark, aber beide mehr als mich selbst: meinen kleinen Sergei und Alexei.«
Sie kam aus der Ecke nach der Mitte des Zimmers und blieb vor Dolly stehen, die Hände gegen die Brust gedrückt. In dem weißen Nachtkleide erschien ihre Gestalt auffallend groß und breit. Sie beugte den Kopf hinab und blickte mit den glänzenden, feuchten Augen unter den Brauen hervor auf die kleine, hagere Dolly, die in ihrer gestopften Nachtjacke und der Nachthaube einen kümmerlichen Anblick bot und vor Aufregung am ganzen Leibe zitterte.
»Nur diese beiden Wesen liebe ich, und das eine von ihnen schließt das andere aus. Ich kann sie beide nicht vereinigen, und gerade das, nur das ist es, was ich brauche. Aber wenn mir das nicht zuteil wird, dann ist mir alles gleich. Alles ganz gleich. Irgendwie wird es ja ein Ende nehmen, und darum kann und mag ich nicht darüber reden. Also tadle und verdamme mich deswegen nicht. Du mit deiner reinen Seele vermagst nicht all das zu verstehen, worunter ich leide.«
Sie trat zu Dolly heran, setzte sich neben sie, ergriff ihre Hand und blickte ihr mit schuldbewußter Miene ins Gesicht.
»Was denkst du? Wie denkst du über mich? Verachte mich nicht. Ich verdiene keine Verachtung. Ich bin eben eine Unglückliche. Wenn jemand unglücklich ist, so bin ich es«, sagte sie, wandte sich von ihr ab und brach in Tränen aus.
Als Dolly allein geblieben war, betete sie und legte sich zu Bett. Sie hatte Anna von ganzem Herzen bemitleidet, während sie miteinander gesprochen hatten; aber jetzt konnte sie sich nicht dazu zwingen, an sie zu denken. Die Erinnerungen an ihr Heim und an ihre Kinder tauchten mit einem ganz besonderen, ihr neuen Reize, mit einer Art von neuem Glanze vor ihrem geistigen Blick auf. Diese ihre Welt erschien ihr jetzt so wertvoll und lockend, daß sie um keinen Preis noch einen weiteren Tag fern von ihr verleben mochte und den Entschluß faßte, morgen unter allen Umständen wieder abzufahren.
Unterdessen nahm Anna, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, ein kleines Glas mit Wasser und träufelte einige Tropfen einer Arznei hinein, dessen Hauptbestandteil Morphium war. Nachdem sie es ausgetrunken und ein Weilchen regungslos dagesessen hatte, ging sie in beruhigter, heiterer Stimmung ins Schlafzimmer.
Als sie dort eintrat, blickte Wronski sie aufmerksam an. Er suchte auf ihrem Gesicht die Spuren der Unterredung, die sie, wie er wußte, mit Dolly gehabt haben mußte, da sie ja so lange in deren Zimmer geblieben war. Aber in ihrem Gesicht, das die innere Erregung zu verhalten und zu verbergen verstand, fand er nichts als die trotz der Gewöhnung ihn immer noch fesselnde Schönheit und das Bewußtsein dieser Schönheit und den Wunsch, daß diese auf ihn wirken möge. Er wollte nicht nach dem Gegenstand des Gesprächs fragen, hoffte aber, daß sie von selbst etwas darüber sagen werde. Aber sie sagte nur:
»Ich freue mich recht, daß Dolly dir gefallen hat. Das hat sie doch, nicht wahr?«
»Ich kenne sie ja schon lange. Sie ist, glaube ich, eine sehr gute, brave Frau, nur außergewöhnlich bieder. Aber ich habe mich doch über ihren Besuch gefreut.«
Er ergriff Annas Hand und blickte ihr fragend in die
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