Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
Einfassung zu holen, und er war mit der alten Kammerfrau der Fürstin auf ein Schränkchen gestiegen, um das Bild abzunehmen, und hatte dabei das Lämpchen vor dem Bilde zerschlagen, und die Kammerfrau der Fürstin hatte ihn sowohl wegen seiner Frau wie auch wegen des Lämpchens zu beruhigen gesucht, und er hatte das Heiligenbild nach seiner Wohnung gebracht und es an Kittys Kopfende aufgestellt und es sorgsam mit dem unteren Rande hinter die Kissen geschoben. Aber wo, wann und wozu das alles geschehen war, das wußte er nicht. Er begriff auch nicht, warum die Fürstin ihn an der Hand faßte, ihn mitleidig ansah und ihn bat, er möchte sich doch beruhigen, und warum Dolly ihm zuredete, doch ein bißchen zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte und sogar der Arzt ihn ernst und teilnahmsvoll anblickte und ihm riet, Tropfen zu nehmen.
     
    Er wußte und fühlte nur, daß das, was hier vorging, Ähnlichkeit hatte mit dem, was vor einer Reihe von Monaten in dem Gasthause der Gouvernementsstadt am Sterbebett seines Bruders Nikolai vorgegangen war. Nur war jenes dort Leid gewesen, und dies hier war Freude. Aber sowohl jenes Leid wie auch diese Freude lagen in gleicher Weise außerhalb aller gewöhnlichen Lebensverhältnisse und waren in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch die man zu etwas Höherem hindurchblicken konnte. Und in gleich bedrückender, qualvoller Weise rückte das, was sich vollzog, heran, und in gleich unbegreiflicher Weise erhob sich bei der Anschauung dieses Höheren die Seele zu einer Höhe, die sie nie vorher auch nur geahnt hatte und zu der der Verstand ihr nicht zu folgen vermochte.
     
    »Herrgott, vergib uns und hilf uns!« sprach er ein über das andere Mal vor sich hin, und trotz seiner langjährigen und anscheinend völligen Entfremdung hatte er die Empfindung, daß er sich mit derselben Unbefangenheit und demselben Vertrauen an Gott wandte wie in der Zeit seiner Kindheit und ersten Jugend.
     
    Diese ganze Zeit über wechselten bei ihm zwei verschiedene Seelenstimmungen miteinander ab. In der einen befand er sich, wenn er nicht bei Kitty, sondern mit dem Arzt zusammen war der eine dicke Zigarre nach der anderen rauchte und sie am Rande des bereits vollen Aschenbechers abstrich, oder mit Dolly und dem Fürsten zusammen, wo dann über das Mittagessen und über Politik und über Marja Petrownas Krankheit gesprochen wurde und er auf einmal für einen Augenblick vollständig vergaß, was vorging, und so wenig Erinnerung hatte wie jemand, der aus dem Schlafe aufwacht. Und in der anderen Stimmung befand er sich, wenn er bei Kitty war und am Kopfende ihres Bettes stand und ihm das Herz vor Mitleid brechen wollte und doch nicht brach und er fortwährend zu Gott betete. Und jedesmal, wenn ihn aus dem zeitweiligen Zustande des Vergessens ein aus dem Schlafzimmer herüberdringender Schrei aufrüttelte, geriet er in jenen sonderbaren Irrtum, der ihn im ersten Augenblick befallen hatte: jedesmal, wenn er einen solchen Schrei hörte, sprang er auf und lief hin, um sich zu rechtfertigen; und dann fiel ihm unterwegs ein, daß er ja keine Schuld trage, und er wollte sie beschützen und ihr helfen. Aber wenn er sie dann anblickte, so sah er wieder, daß er ihr nicht helfen könne, und geriet in Angst und Entsetzen und stöhnte: »Herrgott, vergib uns und hilf uns!« Und je mehr die Zeit verging, um so mehr steigerten sich diese beiden Seelenstimmungen: um so ruhiger wurde er, sobald er nicht bei ihr war, ja er vergaß sie vollständig, und um so mehr Qual bereitete ihm an ihrem Lager der Anblick ihrer Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit ihnen gegenüber. Er sprang dann auf und wollte irgendwohin flüchten, kam aber doch wieder zu ihr zurückgelaufen.
     
    Manchmal, wenn sie ihn immer wieder und wieder zu sich rief, machte er ihr das im stillen zum Vorwurf. Aber wenn er dann ihr demutvolles, lächelndes Gesicht sah und die Worte hörte: »Ich mache dir so viel Pein«, dann wendete er seinen Vorwurf gegen Gott; aber sowie er an Gott dachte, betete er sogleich um Vergebung und Barmherzigkeit.
     

15
     
    E r wußte nicht, ob es spät oder früh sei. Die Lichter waren schon tief herabgebrannt. Dolly war eben im Arbeitszimmer gewesen und hatte den Arzt gebeten, sich doch auf dem Sofa zur Ruhe zu legen. Ljewin saß bei ihm, hörte seine Erzählungen von einem marktschreierischen Magnetiseur an und blickte unverwandt nach der Asche an der Zigarre des Arztes. Es war wieder einmal eine Zeit der

Weitere Kostenlose Bücher