Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Erholung für ihn, und er hatte all das Schreckliche vergessen. Er dachte mit keinem Gedanken an das, was jetzt vorging. Er hörte die Erzählung des Arztes und verstand sie. Plötzlich ertönte ein Schreien, wie er es noch nie gehört hatte. Dieses Schreien war so furchtbar, daß Ljewin nicht einmal aufsprang, sondern nur, ohne Atem zu holen, mit einem erschrocken fragenden Blick den Arzt ansah. Der Arzt hatte den Kopf zur Seite geneigt, horchte und lächelte befriedigt. Alles war diese ganze Zeit her so ungewöhnlich gewesen, daß Ljewin jetzt durch nichts mehr in Erstaunen versetzt wurde. ›Es wird wohl so sein müssen‹, dachte er und blieb sitzen. Aber dann kam ihm der Gedanke: ›Wer hat so geschrien?‹ Er sprang auf, lief auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer, ging um Jelisaweta Petrowna und die Fürstin herum und stellte sich auf seinen Platz am Kopfende. Das Schreien war verstummt; aber irgend etwas hatte sich verändert. Was sich verändert hatte, das sah und verstand er nicht, und er wollte es auch nicht sehen und verstehen. Aber er merkte es an Jelisaweta Petrownas Gesicht: dieses Gesicht war ernst und blaß, und obwohl es ebenso fest und entschlossen aussah wie vorher, so zuckte doch die Kinnlade ein wenig und die Augen waren unverwandt auf Kitty gerichtet. Kittys glühendes, abgequältes Gesicht, auf dessen schweißfeuchter Haut eine Haarsträhne festklebte, war zu ihm gewendet und suchte seinen Blick. Die aufgehobenen Hände verlangten nach den seinigen. Mit ihren von Schweiß glühenden Händen ergriff sie seine kalten Hände und drückte sie an ihr Gesicht.
»Geh nicht weg, geh nicht weg! Ich fürchte mich nicht, ich fürchte mich nicht!« sagte sie hastig. »Mama, nehmen Sie mir die Ohrringe ab; sie belästigen mich. Du fürchtest dich doch nicht? Schnell, schnell, Jelisaweta Petrowna ...«
Sie sprach hastig, ganz hastig und versuchte zu lächeln. Aber auf einmal verzerrte sich ihr Gesicht, und sie stieß ihn von sich zurück.
»Nein, das ist entsetzlich! Ich sterbe, ich sterbe! Geh, geh!« schrie sie, und wieder ertönte dasselbe unnatürliche, grauenhafte Schreien.
Ljewin faßte sich an den Kopf und lief aus dem Zimmer hinaus.
»Es ist nichts Schlimmes, es ist nichts Schlimmes, es geht alles gut!« rief ihm Dolly nach.
Aber da mochte jemand sagen, was er wollte, Ljewin wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen den Türpfosten gelehnt, stand er im Nebenzimmer und hörte jemand in einer Weise kreischen und heulen, wie es seinen Ohren ganz fremd war, und er wußte, was da so schrie, das war ehemals seine Kitty gewesen. Nach dem Kinde trug er schon längst kein Verlangen mehr. Er haßte jetzt dieses Kind sogar. Sein Wunsch ging jetzt nicht einmal darauf, daß sie am Leben bleiben, sondern nur darauf, daß diese furchtbaren Leiden aufhören möchten.
»Doktor, was ist denn das? Was ist denn das? Mein Gott!« rief er und ergriff den hereinkommenden Arzt bei der Hand.
»Es geht zu Ende«, antwortete der Arzt. Sein Gesicht war, als er das sagte, so ernst, daß Ljewin dieses »es geht zu Ende« in dem Sinne von »sie stirbt« auffaßte.
Seiner Sinne nicht mächtig, lief er in das Schlafzimmer. Das erste, was er sah, war Jelisaweta Petrownas Gesicht. Es sah noch finsterer und strenger aus. Kittys Gesicht war nicht da. An der Stelle, wo dieses Gesicht früher gewesen war, befand sich etwas Furchtbares, furchtbar wegen der krampfhaften Verzerrung wie auch wegen der Laute, die von dort herkamen. Er warf sich mit dem Kopfe gegen das Holz der Bettstelle und meinte, das Herz müßte ihm vor Weh zerspringen. Das schreckliche Schreien schwieg keinen Augenblick, es wurde noch immer schrecklicher; dann, als hätte es die äußerste Grenze des Schrecklichen erreicht, verstummte es plötzlich. Ljewin traute seinen Ohren nicht; aber es war kein Zweifel: das Schreien war verstummt, und er hörte eine leise Geschäftigkeit, ein Rascheln, schnelle Atemzüge, und Kittys lebendige, zärtliche, glückliche Stimme sagte leise und fast versagend: »Es ist zu Ende.«
Er hob den Kopf. Sie hatte die Arme kraftlos auf die Bettdecke sinken lassen und lag in überraschender Schönheit still da; schweigend blickte sie ihn an; sie wollte lächeln, aber sie konnte es nicht.
Und plötzlich fühlte Ljewin sich aus jener geheimnisvollen, schrecklichen, fremden Welt, in der er diese zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, bekannte Welt zurückversetzt, die
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