Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
Iwanowna und sah ihn zärtlich an. »Setzen Sie sich zu uns.«
     
    »Man muß nur die Augen geöffnet halten, um nicht des Lichtes, wenn es kommt, unteilhaftig zu bleiben«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort.
     
    »Ach, wenn Sie die Glückseligkeit kennten, die uns das Bewußtsein Seiner immerwährenden Anwesenheit in unserer Seele verleiht!« sagte die Gräfin Lydia Iwanowna mit einem entzückten Lächeln.
     
    »Aber der Mensch fühlt sich manchmal unfähig, sich zu einer solchen Höhe zu erheben«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch. Er war sich zwar bewußt, daß er wider sein Gewissen handelte, indem er ein Schweben der Seele in so hohen Regionen als möglich zugab; aber doch konnte er sich nicht entschließen, sich als Freidenker einer Person gegenüber zu bekennen, die nur ein Wort zu Pomorski zu sagen brauchte, um ihm die gewünschte Stelle zu verschaffen.
     
    »Das heißt, Sie wollen sagen, daß ihn die Sünde daran hindert?« fragte Lydia Iwanowna. »Aber das ist eine unrichtige Anschauung. Für die Gläubigen gibt es keine Sünde; die Sünde ist schon abgebüßt. Verzeihung«, fügte sie mit einem Blick auf den Diener hinzu, der wieder mit einem zweiten Brief ins Zimmer trat. Sie las den Brief und erledigte die Beantwortung mündlich: »Sagen Sie: morgen, bei der Großfürstin.« Dann fuhr sie in dem Gespräche fort: »Für den Gläubigen gibt es keine Sünde.«
     
    »Ja, aber der Glaube ohne Werke ist tot«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, der sich aus dem Religionsunterrichte an diesen Satz erinnerte; seine unabhängige Stellung suchte er jetzt nur noch durch ein Lächeln zu wahren.
     
    »Da haben wir's! Die bekannte Stelle aus der Epistel des Apostels Jakobus!« sagte Alexei Alexandrowitsch, sich zu Lydia Iwanowna wendend; aus seinen Worten klang eine Art von Vorwurf heraus, und es war klar, daß sie über diesen Gegenstand schon wiederholt gesprochen hatten. »Wieviel Schaden hat die falsche Auslegung dieser Stelle nicht schon angerichtet! Nichts ist in höherem Grade geeignet, vom Glauben abzuhalten, als diese Auslegung. ›Ich habe keine Werke, also kann ich auch nicht glauben.‹ Und doch ist das nirgends gesagt, sondern vielmehr gerade das Gegenteil.«
     
    »Sich für Gott abmühen und durch Arbeit und Fasten seine Seele zu retten suchen«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna im Tone des Widerwillens und der Geringschätzung, »das sind die rohen Vorstellungen unserer Mönche ... Und doch ist das in der Heiligen Schrift nirgends gesagt. Die Sache ist weit einfacher und leichter«, fügte sie hinzu und sah Oblonski mit demselben ermutigenden Lächeln an, mit dem sie bei Hofe die jungen, durch die neue Umgebung verschüchterten Hofdamen zu ermutigen pflegte.
     
    »Wir sind erlöst durch Christus, der für uns gelitten hat. Wir sind erlöst durch den Glauben«, fügte Alexei Alexandrowitsch bekräftigend hinzu, nachdem er schon vorher ihren Worten durch seine Blicke Beifall gezollt hatte.
     
    »Vous comprenez l'anglais?« 2 fragte Lydia Iwanowna, und als sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, stand sie auf und suchte unter den Büchern auf einem Bücherbrett. »Ich möchte Ihnen Safe and Happy oder Under the Wing 3 vorlesen«, sagte sie mit einem fragenden Blick auf Karenin. Und nachdem sie das Buch gefunden und sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte, schlug sie es auf. »Es ist ganz kurz. Hier ist der Weg beschrieben, auf dem man zum Glauben und zu jener hoch über allem Irdischen stehenden Glückseligkeit gelangt, die dabei unsere Seele erfüllt. Der Gläubige kann nicht unglücklich sein, weil er nicht allein ist. Aber Sie werden gleich selbst sehen.« Sie wollte eben anfangen zu lesen, als schon wieder der Diener hereinkam: wann sie Herrn Borosdin empfangen wolle. »Herrn Borosdin? Sagen Sie: morgen um zwei Uhr. – Ja«, sagte sie, indem sie den Finger an der betreffenden Stelle als Lesezeichen im Buche hielt und mit ihren sinnenden, schönen Augen vor sich hinblickte. »Da sieht man, wie der wahre Glaube wirkt. Kennen Sie Marja Sanina? Wissen Sie von ihrem Unglück? Sie hat ihr einziges Kind verloren. Sie war in Verzweiflung. Nun, und was geschah? Sie hat diesen Freund gefunden, und nun dankt sie Gott für den Tod ihres Kindes. Das ist das Glück, das der Glaube verleiht!«
     
    »O gewiß, das ist höchst ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, der ganz zufrieden damit war, daß nun vorgelesen werden sollte und er so die Möglichkeit haben werde, seine Gedanken ein bißchen zu sammeln.

Weitere Kostenlose Bücher