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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Liebe und bei Wronski in der Reue darüber, daß er sich um ihretwillen in eine so peinliche Lage gebracht habe, die sie ihm, statt sie ihm zu erleichtern, immer noch schwerer mache. Keiner von beiden sprach sich über den Grund seiner Gereiztheit aus; aber jeder von ihnen war überzeugt, daß der andere im Unrecht sei, und bemühte sich bei jedem Anlaß, es ihm zu beweisen.
     
    Nach Annas Anschauung ließ sich sein ganzes Wesen, mit allen seinen Gewohnheiten, Gedanken und Wünschen, mit seinem ganzen seelischen und körperlichen Sein, auf einen einzigen Punkt zurückführen: auf Liebe zum andern Geschlecht, und diese Liebe sollte sich, nach ihrem Rechtsgefühl, ausschließlich auf ihre eigene Person richten. Seine Liebe zu ihr hatte sich vermindert; folglich mußte er nach ihrem Urteile einen Teil seiner Liebe anderen Frauen oder wenigstens einer anderen Frau zuwenden – und sie wurde eifersüchtig. Sie war nicht auf irgendeine bestimmte Frau eifersüchtig; ihre Eifersucht gründete sich nur auf die Tatsache der Verminderung seiner Liebe zu ihr. Da sie noch keinen Gegenstand für ihre Eifersucht hatte, so suchte sie nach einem solchen. Bei dem unbedeutendsten scheinbaren Anzeichen übertrug sie ihre Eifersucht von einem Gegenstand auf einen anderen. Bald war sie auf jene Frauenspersonen geringeren Standes eifersüchtig, mit denen in Beziehung zu treten ihm durch seine Verbindungen in der Welt der Junggesellen so leicht war; dann wieder auf Damen der vornehmen Gesellschaft, mit denen er zusammentreffen konnte; dann auf ein Gebilde ihrer Phantasie, ein junges Mädchen, das er heiraten wolle, sobald er die Beziehungen zu ihr selbst werde abgebrochen haben. Und mit dieser Form der Eifersucht quälte sie sich am allermeisten, weil er selbst einmal in einem Augenblick der Offenherzigkeit unvorsichtigerweise zu ihr geäußert hatte, seine Mutter habe für sein Seelenleben so wenig Verständnis, daß sie sich erlaubt habe, ihm zu einer Heirat mit der Prinzessin Sorokina zuzureden.
     
    Infolge dieser Eifersucht hatte Anna einen innerlichen Grimm gegen ihn gefaßt und suchte in all und jedem nach Anlässen, ihm zu zürnen. An allem, was ihre Lage Peinliches mit sich brachte, maß sie ihm die Schuld bei. Den qualvollen Zustand des Wartens, den sie, gleichsam zwischen Himmel und Erde schwebend, in Moskau durchmachte, Alexei Alexandrowitschs Langsamkeit und Unentschlossenheit, ihre Vereinsamung, alles legte sie ihm zur Last. Wenn er sie wirklich liebte, meinte sie, so würde er das Peinliche ihrer Lage in seinem ganzen Umfange begreifen und sie daraus erlösen. Daran, daß sie in Moskau und nicht auf dem Lande wohnte, war auch wieder er, nur er, schuld. Denn er, meinte sie, fühlte sich außerstande zu leben, wenn er sich auf dem Lande vergraben solle, während doch ein solches Leben ihrem eigenen Wunsche entspreche. Er verlange durchaus nach Geselligkeit und habe sie deshalb in diese schreckliche Lage gebracht, deren Peinlichkeit er nicht begreifen wolle. Und auch daran war er, er, schuld, daß sie für immer von ihrem Sohne getrennt war.
     
    Selbst die seltenen Augenblicke der Zärtlichkeit, die in ihrem Zusammenleben vorkamen, dienten nicht dazu, Anna zu beruhigen; denn in seiner Zärtlichkeit gewahrte sie jetzt einen Unterton von Ruhe und Besitzgefühl, der früher nicht vorhanden gewesen war und von dem sie sich verletzt fühlte.
     
    Die Abenddämmerung war schon angebrochen. Anna war allein zu Hause und wartete auf Wronskis Rückkehr von einem Junggesellenmahl, zu dem er gefahren war. Während sie in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging (es war dies das Zimmer, wo der Straßenlärm am wenigsten zu hören war), überdachte sie in allen Einzelheiten den Hergang eines Streites, den sie gestern mit Wronski gehabt hatte. Indem sie von den beleidigenden Worten, die er bei dem Streite gebraucht hatte und die in ihrem Gedächtnisse hafteten, immer rückwärts schritt zu dem, was ihr Anlaß gewesen war, gelangte sie schließlich zu dem Ausgangspunkt des Gespräches. Sie konnte es lange nicht glauben, daß der Streit von einem so harmlosen Gegenstande, der für keinen von ihnen beiden Herzenssache war, seinen Anfang genommen hatte. Und dennoch war es wirklich der Fall gewesen. Alles war daher gekommen, daß er über die Mädchengymnasien, die er für überflüssig hielt, gespottet hatte, während sie für diese Schulen eingetreten war. Er hatte sich über das gesamte weibliche Bildungswesen abfällig geäußert und gesagt, für

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